Was heißt es, ein Kind von Einwanderern zu sein? Tarik Tozlu, dessen Eltern aus der Türkei kommen, erzählt.

Weil der Stadt - Tarik Tozlu aus Weil der Stadt ist der Sohn türkischer Migranten. Er ist 20 Jahre alt und beginnt im September eine Ausbildung zum Medientechnologen. In Hildegard Wutzlers Buch „Vielfältig! Verschieden! Vereint!?“ erzählt er von seiner Kindheit und seiner Jugend – und von der „Fremdsprache“ Schwäbisch:

 

„Unser Kindergarten in Hamm war toll. Es war ein privater Ganztageskindergarten mit einem großen Spielplatz, der im Wald lag. Hier gab es Ziegen, Papageien und andere Tiere. Zwei Jahre war ich zusammen mit einem Cousin im Kindergarten, bevor wir nach Merklingen zogen. Das erste Jahr in Merklingen war das schlimmste Jahr meines Lebens. Ich hatte keine Freunde und habe nichts verstanden. Ich konnte zwar Deutsch, aber das Schwäbische war eine Fremdsprache für mich. Es war eine andere Welt.

Da ich ein schüchternes Kind war, hatte ich niemanden, der mit mir spielte, und so saß ich oft im Kindergarten alleine in einer Ecke. Das war nicht schön. Manchmal haben die Erzieherinnen mit mir Brettspiele gemacht, da ich zu den anderen Kindern kaum Kontakt hatte. Ab und zu gab es Spielzeugtage, an denen jedes Kind sein Lieblingsspielzeug mitbringen durfte. Aber meine Mutter wusste das nicht, und so war ich das einzige Kind, das kein eigenes Spielzeug dabei hatte. Das war so schlimm für mich, dass ich das nie vergessen werde. Nach einiger Zeit lernte ich einen türkischen Jungen kennen, mit dem ich mich gut verstanden habe, und nun war die Kindergartenzeit für mich auch schöner.

Als ich in die Grundschule kam, konnte ich zwar Deutsch, aber kein Schwäbisch. Meine Grundschullehrerin hat breitestes Schwäbisch „gschwätzt“ und ich habe gar nichts verstanden. In der zweiten Klasse hatte ich in Deutsch eine Fünf; von meinen Mitschülern bekam ich keine Unterstützung. Deshalb freundete ich mich mit dem einzigen türkischen Jungen in meiner Klasse an. Die erste und zweite Klasse waren fürchterlich! Ich ging auch noch in die türkische Schule, aber da es mir dort nicht gefallen hat, bin ich nicht mehr hingegangen. Zum Glück haben unsere Eltern uns nicht dazu gezwungen.

Erinnerungen an die Schulzeit

An die ersten beiden Grundschuljahre habe ich kaum Erinnerungen. In der dritten und vierten Klasse hat mich die Klassenlehrerin sehr unterstützt. Mit der Zeit habe ich das Schwäbische besser verstanden und auch Freunde gefunden. Bei uns gab es keine „Assi-Türken“ und meine Grundschulzeit war in Ordnung. Aber später in der Realschule gab es manchmal Probleme. Einmal teilte eine Lehrerin einen Test aus und meinte: „Du kannst das nicht, das schaffst du eh nicht“ und beim Einsammeln der Blätter meckerte sie uns Türken auch noch an. Sie war zu allen Schülern unfreundlich, aber zu uns Türken war sie noch schlimmer als zu den Deutschen. Da hat sie immer noch eins draufgesetzt.

Ein, zwei Freunde aus der Grundschule gingen mit mir zur Realschule. Ich spürte keine Unterschiede zu deutschen Kindern, das hatte sich schon in der Grundschule normalisiert. Mit meiner Deutschlehrerin habe ich mich nicht verstanden, aber das war wohl meine Schuld. Ich war aufmüpfig und machte keine Hausaufgaben. Ich musste in der fünften Klasse bestimmt 20 Mal nachsitzen.

Falsche Freunde und Ärger mit der Mutter

In der achten Klasse bin ich sitzen geblieben. Wenn ich um 13.10 Uhr nach Hause kam, habe ich meine Tasche abgelegt und bin mit dem Bus um 13:21 Uhr schon wieder nach Weil der Stadt zum Spielplatz beim E-Center gefahren. Da traf man immer jemanden und manchmal hingen dort bis zu 30 Leute herum. Vor 20 oder 21 Uhr kam ich nie nach Hause und habe nichts gegessen, vielleicht mal ein Red Bull getrunken. Wir haben nichts gemacht, haben dort nur abgehangen. Das war damals mein Freundeskreis, der war schlimm. Dann bin ich sitzen geblieben.

Meine Mutter machte mir immer wieder Vorwürfe und meinte, ich solle meine Hausaufgaben machen und nicht so viel rumhängen. Aber genützt hat es nicht viel. Doch mit der Zeit habe ich eingesehen, dass mir diese Clique nicht gut tat, und habe mich von ihr getrennt. Es gab immer wieder Streitereien und es hat mir keinen Spaß mehr gemacht, mit ihnen rumzuhängen. Deshalb bin ich weggeblieben. Das war richtig, denn nun wurden auch meine schulischen Leistungen besser.

Ungefähr fünf oder sechs Jahre war ich im Fußballverein, obwohl ich das nicht wollte, aber meine Eltern meinten, ich müsse da hingehen. Ich hasse Fußball. Der Sport hatte keinen Wert für mich, weil ich mich dem Trainer unterordnen sollte. Wenn wir zwei Runden um den Platz laufen sollten, maulte ich, dann musste ich vier Runden laufen. Das war nichts für mich und der Trainer meinte: „Wenn es dir nicht passt, dann geh dich umziehen.“ Also habe ich mich umgezogen, bin nach Hause gegangen und habe mich vom Fußball abgemeldet. Ich war halt stur, deshalb hatte ich auch oft Ärger in der Schule. Da mir Basketball gut gefällt, habe ich mich nun dort beim Training angemeldet. Heute bin ich auf der Gottlieb-Daimler-Schule in Sindelfingen in der zwölften Klasse und mache dort die Fachhochschulreife.“

Aufwachsen zwischen zwei Kulturen

Buch „Vielfältig! Verschieden! Vereint!?“ - „Vielfältig! Verschieden! Vereint!?“ ist eine Alltagslektüre. Nicht, weil sie sich so alltäglich nebenher liest, sondern weil sie direkt aus dem Alltag kommt. In ihrem aktuellen Buch widmet sich die Weil der Städterin Hildegard Maria Wutzler den Geschichten von Jugendlichen aus Weil der Stadt, deren Eltern nach Deutschland immigriert sind.

„Uns vom Internationalen Kreis Weil der Stadt hat interessiert, wie es der Zweiten Generation von Einwanderern in unserer Stadt geht. Gibt es noch Probleme oder fühlen sie sich mittlerweile voll integriert?“, sagt sie über die Idee hinter dem Buch. Dazu sprach sie mit 16 Jugendlichen mit Wurzeln in Griechenland, Pakistan, Italien, Russland, Sri Lanka, Spanien, Türkei und Kroatien. Herausgekommen sind zehn Geschichten über das Aufwachsen zwischen zwei Kulturen, über die Bedeutung von Nationalität und über Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Wutzler gab den Protagonisten dabei viel Raum zur Selbstdarstellung, den diese mit beeindruckender Selbstreflexion und Erzählfreude nutzten. „Ich habe mich mit ihnen allen zu Gesprächen getroffen und vorab einen Fragenkatalog vorbereitet. Doch schon nach kurzer Zeit kamen sie ins Reden und waren dabei unglaublich offen, was mich sehr beeindruckte“, so die Autorin. Im Kern erzählen die Protagonisten ihre bisherige Lebensgeschichte.

Antworten nicht „glattgebügelt“

Wie kamen die Eltern nach Weil der Stadt? Wie wurden sie erzogen? Wie haben sie sich in Kindergarten und Schule zurechtgefunden? Die Befragten berichten von Freundschaften zu Kindern aus den verschiedensten Kulturkreisen, von Weihnachtsbäumen in muslimischen Haushalten, aber auch von Problemen mit Diskriminierung oder der Verwandtschaft in der alten Heimat.

Interessant ist dabei der Erzählstil. Wutzler gibt alle Antworten im Wortlaut wieder, nur ohne die Fragen. „Ich wollte mich im Hintergrund halten“, erklärt sie. Dadurch entsteht eine ungewöhnliche Dynamik im scheinbaren Dialog der Protagonisten. Gerade am Anfang ist die Form eine erfrischende Abwechslung. Die Antworten der Protagonisten liefern die gestellten Fragen unterschwellig mit. Auch lesen sich die Texte wie direkt aus dem Gespräch mitgeschnitten. „Es sollte so authentisch wie möglich werden. Deswegen habe ich die Formulierungen der Jugendlichen nicht glattgebügelt oder in eine literarische Form gebracht“, sagt Wutzler. Das merkt man den Texten an. Sie weisen an manchen Stellen Dopplungen auf oder sind nicht zu 100 Prozent stringent, doch die dadurch entstehende Authentizität macht diesen Wermutstropfen wieder wett.

Die Lektüre schafft Empathie

„Vielfältig! Verschieden! Vereint!?“ ist eine interessante Lektüre, die neue Einblicke in die und aus der Mitte der Weil der Städter Gesellschaft liefert. Durch den weiten und ungezwungenen Rahmen der Gespräche erhält der Leser viele neue Perspektiven und auch Hintergründe zu kulturellen Unterschieden, die im öffentlichen Diskurs häufig reflexhaft abgestempelt werden. So schafft Wutzler Empathie. Zum Beispiel für Bob, einen der Protagonisten mit pakistanischen Wurzeln, der von Aggressionsproblemen in seiner Jugend berichtet. Auch die enorme Vielfalt innerhalb der verschiedenen Kulturkreise wird in den Dialogen sichtbar, wenn beispielsweise Tarik und Nida über ihre Beziehungen zur Türkei sprechen. Oder bei Leandra, die sowohl ein griechisches als auch ein italienisches Elternteil hat. Wer sich also für die Pluralität in Weil der Stadt interessiert, für den lohnt sich die Lektüre.