Mit einem Fest und kostenlosen Probefahrten gibt die Bahn die Linie S 60 für den Verkehr frei.

Renningen/Böblingen - Der Zeiger der Uhr rutscht auf 14 Uhr, Aufbruchstimmung am Renninger Bahnhof: Menschen drängeln sich auf den Bahnsteigen zusammen. Sie winken einander zu oder steigen in rot glänzende Zugwaggons. Der Musikverein Renningen spielt, fröhliche Blasmusik weht über die Gleise. Der Gemeinderat Peter Weiß eilt an der Menge vorbei. „Heute ist ein schöner, ein guter Tag für Renningen“, jubiliert der CDU-Mann, „sogar das Wetter spielt mit.“ Auch das Festzelt ein paar Meter weiter ist voller Menschen. Wenige Minuten zuvor war hier noch lustvoll über den Bahnverkehr an und für sich diskutiert worden; die Podiumsdiskussion war Teil der festlichen Eröffnung der neuen Linie.

 

Aber nun ist es endlich so weit: die erste S-Bahn 60 nach Böblingen fährt ab. Pünktlich auf die Minute verlässt sie den Renninger Bahnhof und bringt Hunderte Menschen in die Kreishauptstadt. Bahnfans und Technikfreaks fahren mit, Kommunalpolitiker, Neugierige – und Pendler, die schon einmal die neue Strecke austesten wollen.

Einige nutzen auch einfach die günstige Gelegenheit: Schließlich pendelt die S 60 den ganzen Samstag über kostenlos. Ein Stadtbummel in Böblingen bietet sich für die Renninger ebenso an wie ein Abstecher auf den Weihnachtsmarkt der Stadt am Rankbach für die Böblinger. „Schwaben sind ja sparsame Menschen, und heute gibt es etwas umsonst“, sagt der Renninger Bauamtsleiter Christoph Dustmann – er selbst ist ein Nordlicht – augenzwinkernd, während er fleißig Fotos macht von diesem historischen Tag.

Die S-Bahn schlängelt sich derweil leise säuselnd an Magstadt vorbei. Puderzucker-Schnee bedeckt die Felder. „Hach, es ist jetzt so schnell und günstig, nach Böblingen zu fahren“, seufzt ein älterer Renninger beglückt. Bahnmitarbeiter verschenken Kekse und Fahrpläne. Fast erwartet man, dass jeden Augenblick der Weihnachtsmann samt Rentierschlitten am Bahnfenster vorbeifliegt und Elfenstaub auf die Elektrolok streut.

Der alte rot gewandete Rauschebart lässt sich dann doch nicht blicken. Am Renninger Bahnhof sind dafür etliche „Ärzte“ unterwegs. Sie halten Schilder hoch: „Endlich S 60 . . .“. Doch sobald die Demonstranten – denn nichts anderes sind die Ärzte – die Schilder umdrehen, stehen dort Sätze wie: „. . . aber wir wollen, dass der Bahnlärm verschwindet.“

Die Protestierenden gehören zur Bürgerinitiative Bahnlärm Leonberg. Sie wissen natürlich, dass die Stadt Renningen sich beim Thema Lärmschutz für die S 60 starkgemacht hat. Aber: „Hier fahren künftig auch wieder Güterwaggons, die ordentlich Krach machen“, berichtet der Demonstrant Karl-Hermann Heisterborg. „Und auch insgesamt wollten wir diesen Tag nutzen, um das Thema Bahnlärm in den Fokus zu rücken.“ Der Lärm könne Menschen nämlich krank machen. „Deswegen sind wir uns auch als Ärzte verkleidet“, ergänzt Heisterborgs Mitstreiter Ewald Thomas. Die erste S-Bahn aus Renningen steuert unterdessen Böblingen an. Die weiße Wunderlandschaft weicht den Daimler-Werken. So langsam fühlt sich das Fahren mit der S 60 normal an. Die FDP-Kreisrätin und frühere Landtagsabgeordnete Heiderose Berroth hat ihren Mann im Zug verloren und hofft, ihn am „Bahnhof BB“ wiederzufinden. Ein Baby schreit. Die Gänge der Waggons sind mit Nässe und Matsch bedeckt.

Dann bleibt der Zug plötzlich stehen. Eine Durchsage beginnt: „Unser Gleis ist noch belegt.“ Es dauert einige Minuten, bis es weitergeht und die S 60 zum ersten Mal in den Böblinger Bahnhof einfährt. Eine kurze Verspätung. Und am Abend kommt es zu einer weiteren Panne: Eine Weiche am Renninger Bahnhof lässt sich nicht mehr stellen, zwei Fahrten fallen aus. Bahnreisende müssen in der Kälte warten – der Zugalltag hat begonnen.