Nach einem schweren Lastwagenunfall wird der Pfeiler einer Brücke mit einer Strahlenkanone beschossen. Vier Stunden lang wird die Säule durchleuchtet. Am Ende soll ein Röntgenbild zeigen, ob bei der Kollision unsichtbare Risse entstanden sind.

Leonberg - Achtung Autofahrer! Wer am Montag zwischen 14 und 18 Uhr auf der A 8 südlich von Leonberg in Richtung München unterwegs war, hat sehr wahrscheinlich radioaktive Strahlung abbekommen, allerdings nur eine winzige Dosis. An der Überleitung auf die A 81 in den Engelbergtunnel wurde ein Brückenpfeiler vier Stunden lang durchleuchtet – um herauszufinden, ob er innere Risse hat.

 

Ein Fahrstreifen ist gesperrt. Ein Kran hat seinen Arm unter der schmalen Brücke vor der Abfahrt nach Heilbronn ausgefahren. Eine kleine Plattform schwebt etwa einen halben Meter neben dem Stützpfeiler der Brücke, die nur wenige hundert Meter vom Stadion des TSV Eltingen entfernt über die Autobahn führt. Auf der Plattform steht ein Metallkasten von der Größe einer Bierkiste. Ein dünner gelber Schlauch führt von dem Kasten zu einem metallischen Strahler, der an dem Brückenpfeiler befestigt wurde. Auf der Metallkiste prangt ein gelber Aufkleber mit drei schwarzen, im Kreis angeordneten Balken und einem Punkt in der Mitte. Die Aufschrift darunter lautet: „Radioactive“.

Im vergangenen Oktober ist ein Lastwagen gegen den Stützpfeiler der Autobahnbrücke gekracht. Der Fahrer kam mit dem Leben davon, der Schaden wurde am Tag nach dem Unfall auf rund 65 000 Euro geschätzt. Damit der Unfall keine tragischen Langzeitfolgen hat, wird geprüft, ob die Brücke noch immer stabil ist, oder ob das Bauwerk bei der Kollision für das menschliche Auge kaum sichtbare Haarrisse davon getragen hat.

Ingolf Waßmann ist Werkstoffprüfer. „Der Strahler kam heute Morgen aus Bochum“, erzählt er. Kern des Gefahrguttransports war ein drei auf drei Millimeter kleines Stückchen radioaktives Material: „Wir benutzen Cobalt 60 für diese Messung“, erklärt Waßmann.

Auf der Rückseite des Pfeilers, gegenüber des Strahlers mit dem gelben Schlauch, wurde eine rötliche Platte angebracht, der Film. „Das müssen Sie sich wie ein Negativ vorstellen“, sagt Waßmanns Kollege Khalid Khayar. Strahler und Film sind mit einem einfachen grünen Spanngurt um die Pfeiler gebunden. Die Aufnahme, für die das über 40 000 Euro teure Gerät extra aus Bochum nach Leonberg geschafft wurde, wird vier Stunden dauern. „Das ist wie die Belichtungszeit beim fotografieren“, „sagt Khayar, „je dicker das Material, umso länger dauert die Aufnahme.“ Die Säule hat einen Durchmesser von 45 Zentimetern, die Wand neun Zentimeter. „Das ist schon am oberen Ende von dem, was wir messen können“, erklären die zwei Fachleute.

Die beiden Werkstoffprüfer tragen einen sogenannten Dosimeter unter ihren orange farbenen Warnwesten. Das Gerät misst die Strahlung, der die Männer bei ihrer Arbeit ausgesetzt sind. „Die werden einmal im Monat ausgelesen“, sagt der Ingolf Waßmann. Er steht etwa fünf Meter vom Strahler entfernt. Auf dem digitalen Bildschirm seines Messgeräts wird ein Wert von 0,26 Microsievert angezeigt. „Normal ist ein Wert von null“, sagt Waßmann, „der Kontrollbereich beginnt bei 40.“ Allerdings wurde das Gerät noch nicht eingeschaltet.

Vom Pfeiler samt Strahler führen zwei gelbe Kabel hinter den Leitplanken entlang zu einem etwa 40 Zentimeter hohen rostigen Metallgestell, an dessen oberen Ende eine silberne Kurbel angebracht ist. „Die Vorrichtung sieht ein bisschen aus wie der Auslöser einer großen Sprengladung“, sagt Waßmann, lacht und dreht. Die restlichen Arbeiter, der Fotograf und die Mitarbiter der Straßenmeisterei haben sich weiter hinten in Sicherheit gebracht. „Was der Dosimeter jetzt anzeigt, wenn der Strahler loslegt, ist ein Betriebsgeheimnis“, sagt Waßmann.

Nach Aussage des Fachmanns würde es eine halbe Ewigkeit dauern, bis ein Mensch von dieser Strahlung genug abbekommt, um ernsthaft Schaden zu nehmen. „Ich werde im nächsten Jahr 65, kommenden April gehe ich in Rente. Den Job mache ich seit über 40 Jahren“, sagt Waßmann, „ich war bei unseren Kontrollen noch nicht ein einziges Mal nahe an den Grenzwerten dran.“

Aus diesem Grund gibt es auch für die Autofahrer keine Warnhinweise oder weitere Sicherheitsmaßnahmen. „Es stimmt, die Autofahrer durchqueren die Sicherheitszone, die wir jetzt nicht mehr betreten, bis die Messung in vier Stunden abgeschlossen ist“, erklärt Waßmann, „doch bei der Geschwindigkeit, mit der die Fahrzeuge an der Strahlenquelle vorbei fahren, bekommen die Menschen nur eine sogenannte Passage-Dosis ab.“ Zu Deutsch: selbst wer vergleichsweise langsam auf der Autobahn unterwegs ist, passiert den radioaktiven Bereich so schnell, dass keine Gefahr für die Gesundheit besteht. „Würde sich jetzt allerdings ein langer Stau bilden und die Autos müssten neben unserem Strahler stehen bleiben, würden wir die Messung abbrechen“, sagt Waßmann.

Die Autobahn ist nicht das normale Revier von Khalid Khayar und Ingolf Waßmann. „Wir werden dann gerufen, wenn es um die Stabilität von etwas geht“, sagen die beiden. „Wir messen beispielsweise, ob die Schweißnähte in einem Atomkraftwerk noch in Takt sind“, sagt Waßmann.

Vor der Kontrolle mit der Strahlenkanone wurde die Farbe des Stützpfeilers abgeflext. Danach haben die Männer sogenannte Indikationsfarbe auf den blanken Stahl aufgetragen. „Damit können wir schon bei einer optischen Prüfung erkennen, ob Haarrisse vorhanden sind“, sagt Waßmann „dann verändert sich die Farbe.“ Das selbe Verfahren wurde sofort nach dem Unfall im Herbst 2012 angewendet. „Damals waren wir uns zu 90 Prozent sicher, dass die Brücke noch in Ordnung ist“, erklärt Wolfgang Bonz vom Regierungspräsidium in Stuttgart. „Eigentlich wollten wir die Kontrolle mit der Strahlenkanone schon früher machen, doch wir mussten den Termin wegen des strengen Winters immer wieder verschieben“, sagt der Sachgebietsleiter für Bauwerksprüfung.

Am Ende des Tages haben Ingolf Waßmann und seine Kollegen ihre Strahlenkanone wieder in den Bus mit der Aufschrift „Gefahrguttransport“ gewuchtet, eine der schwersten Arbeiten des Tages. Der bierkistengroße Strahler wiegt gute 150 Kilogramm. „Das liegt an dem dicken Bleimantel, der das Gerät umgibt“, erklärt Bonz, „es ist ein Strahlenschutz wie man es von den Röntgenaufnahmen beim Arzt kennt.“

Das Ergebnis werden Ingolf Waßmann und sein Kollege Khalid Khayar heute in der Dunkelkammer ihres Labors entwickeln. „Das funktioniert wie früher bei den Fotos in einem Becken mit Flüssigkeit“, erklären sie. Eine böse Überraschung halten die beiden Experten allerdings für unwahrscheinlich: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir tatsächlich Risse finden, die wir bei der optischen Kontrolle übersehen haben“, sagt Waßmann.