Torsten Hub ist Direktor am Amtsgericht. Seit der Coronapandemie erlebt er Familienstreitigkeiten, die „immer schräger werden“.

Schon zu Beginn der Coronapandemie haben Psychologen, Soziologen und andere Experten vor den Folgen von Lockdowns und sozialer Isolation für Kinder gewarnt. Nach gut zwei Jahren unter schwierigen Bedingungen vor allem für die Jüngsten in der Gesellschaft scheinen sich die Befürchtungen zu bewahrheiten. Eine ungute Entwicklung stellt Torsten Hub, Direktor des Amtsgerichts Leonberg, in seiner Praxis als Familienrichter fest. „In Kindschaftssachen häufen sich gerade die Verfahren, in denen sich für Familien keine gute Lösung erzielen lässt, weil Eltern und Kinder psychisch auffällig werden“, berichtet er.

 

Vor der Pandemie sind es drei Fälle im Jahr

Torsten Hub, der auf fast zwei Jahrzehnte Erfahrung als Richter zurückblicken kann, unterlegt diese Beobachtung auch mit Zahlen: „In den vergangenen Jahren hatten wir zwei bis drei Fälle mit besonders auffälligen Eltern im ganzen Jahr. Jetzt habe ich allein im ersten Quartal dieses Jahres knapp zehn solcher Verfahren verhandelt.“

Diese Entwicklung hat nicht nur er allein beobachtet, sie deckt sich auch mit den Erfahrungen seiner Kollegen in Leonberg und an den umliegenden Amtsgerichten. „Wenn Kinder bis zu einem Jahr der Schule oder dem Kindergarten entzogen werden, können diese oder auch Vereine nicht mehr als sozialer Kitt wirken wie zuvor“, ist die Vermutung des Amtsgerichtsdirektors.

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Corona habe Eltern viel mehr Möglichkeiten eröffnet, sich ihre eigene Welt zu basteln. Es gebe Familien, die sich bewusst durch die Coronapandemie hätten abhängen lassen. Dies habe zur Folge, dass die Kinder nicht mehr die Förderung bekämen, die sie bräuchten. „Die Streitigkeiten, die wir vor Gericht erleben, werden immer schräger. Bisweilen dauern die Verhandlungstermine bis zu vier Stunden“, hat Torsten Hub festgestellt.

Die psychischen Auffälligkeiten, die Kinder vermehrt zeigten, seien in der Zukunft nur noch mit einem riesigen Aufwand und massiver Unterstützung von Kinder-Psychiatrien wieder in den Griff zu bekommen. In diesen gebe es aber viel zu wenige freie Plätze, wenn sich die Entwicklung so fortsetze.

Dramatische Fälle und abstruse Behauptungen

Allzu detailliert darf der Richter in seine Fälle nicht Einblick gewähren. Aber schon ein paar Beispiele, die er nennt, lassen die Dramatik der Entwicklung erkennen. So berichtet er etwa von einem zweijährigen Kind, das in einer Pflegefamilie untergebracht ist, und beim Spielen allein zu Smartphone und Fernbedienung greift. „Warmes Essen hat es ausgespuckt – so etwas kennt es offenbar nicht“, erzählt Hub.

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Uneinsichtig auf sein Umgangsrecht poche zudem ein viel beschäftigter Vater, der an allen nach seinem Terminkalender möglichen freien Tagen im Jahr seine Kinder sehen wolle. Und Hub musste sich auf der Richterbank anhören, dass eine Familie ihre Kinder nicht in die Schule schicken will, solange dort Maskenpflicht bestehe – diese enthielten Würmer.

Verfahren ziehen sich, weil Sachverständige fehlen

Stellt sich in solch krassen Fällen die Frage, ob ein Kind durch das Jugendamt aus der Familie herauszunehmen ist, stehen die Gerichte vor einem weiteren Problem: Dafür bedarf es in der Regel eines Gutachtens einer Kinder-Psychiatrie oder eines freien Sachverständigen – von denen gibt es aber viel zu wenige.

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So ziehen sich solche Verfahren oft zwischen neun und zwölf Monaten hin. „Das sind dann massive Belastungen für das Kind, das so lange in einem Schwebezustand ist“, erklärt Hub. Das Jugendamt könne in diesen Fällen für das Kind zunächst nur vorübergehende Lösungen finden und nicht sogleich gesicherte langfristige Perspektiven entwickeln.

Richter: Mehr Kinderpsychologen nötig

Ebenso misslich sei es für Kinder, wenn sich die Eltern nach der Trennung darüber streiten, bei wem das Kind leben soll und ein erforderliches Sachverständigengutachten das Verfahren in die Länge ziehe. Dann würde über Monate von beiden Elternteilen an den Kindern herumgezerrt – mit teils gravierenden Folgen.

Immerhin ließen sich mit den meisten Eltern in diesen Verfahren rasch gute Lösungen für die Kinder erarbeiten, bevor die Streitigkeiten weiter eskalieren. Der Familienrichter wünscht sich, dass die Politik, die bereits viel Positives für den Kinderschutz umgesetzt hat, sich auch dem immer weiter steigenden Bedarf nach kinderpsychologischen Sachverständigen annimmt.