Hunderte demonstrieren am Dienstagabend für den Frieden in Europa. Tags darauf kommen sie auf den Rathausplatz zurück, um dne ukrainischen Flüchtlingen mit Spenden zu helfen.

Ditzingen - Freunde in aller Welt – diese Worte stehen auf dem Wagen geschrieben, mit dem sich die Stadt Gerlingen normalerweise bei Straßenumzügen präsentiert. Am Dienstag – noch dazu Faschingsdienstag – steht er auf dem Gerlinger Rathausplatz. Der Wagen in den Farben Europas ist geschmückt mit den Wappen jener Städte, Regionen und Länder, mit denen die Kommune freundschaftlich oder gar partnerschaftlich verbunden ist. An diesem Abend aber dient er den Rednern als Bühne vor der dezent in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb beleuchteten Rathausfassade.

 

Ruhe und Nachdenklichkeit prägen die Atmosphäre

Die Stadt hat anlässlich des Russland-Ukraine-Kriegs zu einer Friedensdemonstration eingeladen. Einer der Redner ist Rainer Lindner. „Dieser Krieg muss enden. Sofort“, sagt der in Gerlingen lebende Vorsitzende des Deutsch-Ukrainischen Forums. Der Politologe und Unternehmer erzählt von einer Familie mit drei Kindern zwischen neun und 13 Jahren. Diese habe sich die Frage gestellt, ob sie bleiben oder gehen sollen. „Wir dürfen es nicht zulassen, dass Familien vor dieser Frage stehen“, sagt Lindner.

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Das Motto des Abends lautet „Gerlingen gemeinsam für den Frieden in Europa“. Die Veranstaltung ist getragen von einem breiten Bündnis aus Vereinen, Kirchen, Parteien und Organisationen. Beobachter reden von 800 Teilnehmern, die gekommen sind, Polizei und Organisatoren von rund 500. Die Atmosphäre ist von Ruhe und Nachdenklichkeit geprägt, bunte Plakate, Transparente und Pace-Fahnen bestimmen das Bild.

Ansprache in ukrainischer und russischer Sprache

Lindner bittet im Lauf seines Redebeitrags ruhig und sachlich darum, die Menschen, die nun auf der Flucht seien, auch in der Stadt empfangen und willkommen zu heißen – „nicht als Flüchtlinge, sondern als Europäer, die bei uns Schutz suchen“. Der promovierte Politologe steht seit dem Jahr 2013 dem Deutsch-Ukrainischen Forum vor. Der Verein mit Sitz in Berlin hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Bedeutung der Ukraine für Deutschland und für Europa stärker bewusst zu machen.

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Lindner geht auch auf die Annexion Russlands der Krim 2014 ein, ordnet ein und sagt, heute bestehe „eine völlig andere Situation“. Und er betont, dass der Bundestag ein „klares Zeichen“ Deutschlands gesetzt habe, „an der Seite der Ukrainer zu stehen“. Am Schluss wendet er sich direkt an die Ukrainer, in ihrer Muttersprache. In Gedanken seien die Menschen bei ihnen, sagt er. Und dass er sicher sei, dass man nicht aufgegeben werde in diesem Kampf. Lindner spricht diese Worte sowohl in ukrainischer als auch russischer Sprache, um alle Ukrainer einzuschließen – also auch jene, die in der Grenzregion leben.

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Bürgermeister Dirk Oestringer (parteilos) hatte sich zuvor vor allem an die Gerlinger gewandt. „Ich bin stolz, das so viele von Ihnen heute Abend hier sind.“ Viele treibt auch die räumliche Nähe des Kriegs an. Unter ihnen ist Oestringers Amtsvorgänger Georg Brenner. Er hatte 2013 den ungarischen Verdienstorden abgelehnt, verbunden mit Kritik an Victor Orbans Politik. Die Reaktionen, auch der ungarischen Partnerstadt Gerlingens, waren massiv. Brenner blieb dabei, er sieht sich bestätigt in der Kritik am ungarischen Ministerpräsidenten.

Bürgermeister zitiert Christian Morgenstern

„Wir sind vergangenen Donnerstag in einer neuen Welt aufgewacht“, nimmt Dirk Oestringer die Worte der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) auf. Der Verwaltungschef ruft verstörende Bilder in Erinnerung, von Menschen die in Metrostationen Zuflucht suchen und die aus Altglas und Styropor Molotowcocktails bauen und von 500 000 Menschen, die deshalb auf der Flucht sind. „Dieser Krieg ist auf das Schärfste zu verurteilen.“ Eigentlich, so fügt er an, habe er geglaubt, der Kalte Krieg sei längst überwunden.

Dann zitiert der Gerlinger Rathauschef den Dichter Christian Morgenstern, um noch deutlicher zu werden. „Einen Krieg beginnen, heißt nichts weiter, als einen Knoten zerhauen, statt ihn auflösen.“ Oestringer sagt, dass die Menschen mit der Überwindung der Pandemie, mit Wirtschaftstransformation, Klimakrise und Digitalisierung wahrlich andere Probleme hätten, „als die Allmachtsfantasien irgendwelcher älteren Herren“. Und er beantwortet die Frage, die die Menschen auf dem Platz an diesem Abend eint: „Was können wir tun?“ Bei dieser Kundgebung könne man „ein Zeichen setzen für den Frieden in Europa“ und für die „Werte, die der Gesellschaft wichtig“ seien, wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Demokratie.

Noch bis Freitag werden Spenden angenommen

Oestringer weist zudem auf die Spendenaktion hin, die der CVJM in Kooperation mit der örtlichen Spedition Heck organisiert hat. Am Tag danach ist Julia Heck völlig überwältigt. Die Spendenbereitschaft ist so groß, dass ein zweiter Lastwagen zur Verfügung gestellt werden soll. Rund hundert Helfer sind gekommen, um die Spenden zu verpacken und die Helfer mit Essen und Getränken zu unterstützen. „Das hätte ich nie gedacht“, sagt Julia Heck in einer ersten Reaktion.

Hilfsaktion in Gerlingen

Transport
Für einen Hilfstransport nach Medyka an der polnisch-ukrainischen Grenze sammelt der CVJM in Kooperation mit der Spedition Heck bis Freitag, 4. März, Schlafsäcke, warme Kleidung, Schuhe, Socken, neue Unterwäsche, Decken, Riegel, Babybedarf, Windeln, Spielsachen, Kuscheltiere, Bürsten, Kämme, Medikamente, Verbandsmaterial. Die Spenden werden an diesem Donnerstag von 9 bis 19 Uhr angenommen und am Freitag von 9 bis 15 Uhr. Wer den Organisatoren bei Annahme, Sortieren und Verpacken helfen möchte, kommt einfach zu den Annahmezeiten auf den Rathausplatz. Willkommen sind auch kleine Snacks zur Stärkung der Helferinnen und Helfer. Der Transport soll am Freitag starten.