200 Schüler lauschen dem Vortrag mit Spannung und Entsetzen.

Rutesheim - Ich erzähle meine Geschichte auch für die, die nicht mehr sprechen können.“ In der Aula des Rutesheimer Gymnasiums ist es sehr still. Mehr als 200 Schüler der Klassenstufen acht und zehn sowie eine Klasse der Weissacher Ferdinand-Porsche-Schule haben den Blick auf die zierliche alte Dame gerichtet, die ruhig auf dem Podium vor ihnen sitzt. Eva Erben ist einer der Zeitzeugen, die in Zusammenarbeit mit der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem (ICEJ) deutsche Schulen besuchen, um zu erzählen, was sie im Holocaust erleben mussten.

 

Geboren wurde Eva Erben 1930 in der Nähe von Prag, und sie spricht zuerst von der Schönheit der Stadt und dem sorglosen Leben, das sie als einziges Kind eines erfolgreichen Chemikers und einer musisch begabten Mutter genossen hat. „Ich war ein glückliches, normales Kind, und nichts in unserem Leben hat darauf hingedeutet, dass sich das ändern sollte“, erzählt sie.

„Und dann wurde alles anders“

Doch am 15. März 1939 besetzte die deutsche Wehrmacht die damalige Tschechoslowakei. „Und dann wurde alles anders.“ Eva Erben schaut kurz nach unten, blickt wieder auf. „Keiner hatte das geglaubt. Wir waren Tschechen, anständige Bürger. Was sollte uns passieren? So dachten wir.“ Doch das war ein Irrtum. Eva durfte nicht mehr zur Schule gehen, Haus und Besitz wurden beschlagnahmt, und 1941 erfolgte die Deportation in die ehemalige Garnisonsstadt Theresienstadt, die zu einem „Konzentrationslager“ umfunktioniert worden war. Das „KZ“ Theresienstadt war ein Vorzeigelager, das ausländischen Delegationen beweisen sollte, dass es den internierten Juden in den Lagern gut ging.

Eva Erben erzählt von dem perfiden Schauspiel, das stattfand, wenn hochrangige nationale und internationale Abordnungen kamen, um sich ein Bild vom Ghetto zu machen. „Da bekamen wir Kinder ein Stück Brot mit Sardellen drauf und wurden auf den Straßen postiert. Und wenn der Lagerleiter Karl Rahm mit den Besuchern um die Ecke bog, mussten wir ihm zurufen: ‚Herr Rahm, schon wieder Sardellen?‘“, sie schluckt, „dabei hatten wir vorher noch nie so etwas bekommen.“

Rauch stieg aus den Kaminen

1944 wurden alle Bewohner Theresienstadts nach Auschwitz verlegt, sie glaubten, an einen besseren Ort zu kommen. Die Ankunft dort ist Eva Erben noch gut im Gedächtnis: „Die Menschen trugen komische Kleidung, der Rauch aus den Kaminen stank und überall war Asche in der Luft.“ Eva Erben holt tief Luft. „Wir waren so naiv. Wir haben nicht verstanden, dass man hier Menschen verbrannte.“ Die Mithäftlinge klärten sie auf: „Der einzige Weg aus Auschwitz raus geht durch den Kamin.“

Wie lebt Eva Erben mit diesen Bildern, den Leichenbergen, die achtlos wie Abfall dalagen, der Enge in den Baracken, wo kein Platz zum Schlafen war, den ständigen Selektionen durch den „KZ“-Arzt Dr. Mengele, der die Häftlinge zu allen Tag- und Nachtzeiten antreten ließ, und dem unendlichen Warten auf das, was da kam? „Meine Mutter blieb immer optimistisch und hat versucht, unsere Gedanken auf die Zukunft zu lenken.“ Das hat Eva geholfen. „Das ist für mich wahres Heldentum. Den Mut nicht zu verlieren, trotz allem nach vorne zu schauen und auch anderen damit Mut zu machen.“ Doch Eva Erben sagt auch: „Wer das überstanden hat, dessen Seele war nicht dort.“ Ihre Seele hat an einem anderen Ort, tief in ihr drin, überdauert.

Das Klicken der Revolver

Als vor genau 75 Jahren am 27. Januar 1945 die Rote Armee das Lager Auschwitz befreite, wurde das Lager Groß-Rosen, in das Eva verlegt worden war, um Schützengräben auszuheben, blitzartig evakuiert: „In nur 20 Minuten hat die Wehrmacht das Lager geräumt und 1000 Frauen auf einen Todesmarsch geschickt.“ 30, 40 Kilometer seien sie täglich gelaufen, bei Minusgraden, ohne warme Kleidung, immer hungrig, kahlköpfig, verlaust und dreckig. Wer nicht mehr konnte, wurde erschossen. „Das Klicken der Revolver höre ich heute noch“, sagt Eva Erben. Immer noch erzählt sie ruhig und sachlich.

Dem Marsch ist sie durch einen unglaublichen Glücksfall entkommen, doch nur, um zwei Wehrmachtssoldaten in die Arme zu laufen. Der eine wollte sie ohne viel Federlesens erschießen, doch der andere meinte lapidar: „Spar dir die Kugel, die krepiert von alleine.“ Eva war 15 Jahre alt und wog noch 28 Kilo. Tschechische Bauern fanden und retteten sie. Sie überlebte.

1949 wanderte sie mit ihrem Mann Peter nach Israel aus. Über ihr Leben unter der nationalsozialistischen Herrschaft sprach sie, wie viele ihrer Leidensgenossen, nie: „Man hat alles verdrängt, man konnte mit den Erinnerungen nicht leben. Manche Dinge sind zu schrecklich, um sie zu erzählen, auch heute noch.“ Bis sie fast 40 Jahre später von der Lehrerin ihres damals zehnjährigen Enkels gebeten wurde, der Klasse davon zu erzählen.

Die Schüler sind nach Eva Erbens Erzählung ruhig, sie müssen das Gehörte erst verdauen und stellen fast keine Fragen. Das wird später kommen.

Antisemitismus heute

Der Antisemitismus in Deutschland wächst. Das spürt auch Katja Bühler vom Deutschen Zweig des ICEJ, die Eva Erben bei den Schulbesuchen begleitet: „Wir bekommen immer häufiger E-Mails mit antisemitischen Botschaften“, erzählt sie. Dagegen etwas zu tun, ist ein Motor, der Eva Erben antreibt. Seit 25 Jahren besucht sie Schulen in Deutschland und erzählt aus ihrem Leben, und noch immer schläft sie vor jeder Reise viele Nächte schlecht. Ihre Geschichte hat sie aufgeschrieben, das Buch bekommen die Schüler in Rutesheim zum Abschluss vom ICEJ geschenkt. Als Schlusswort gibt Eva Erben ihnen mit auf den Weg, was sie gelernt hat: „Wohin du geboren bist, ist Schicksal. Aber was du daraus machst, liegt in deinen Händen.“