Ein 76-jähriger bislang völlig unbescholtener Bürger steht vor dem Landgericht. Er soll im Juni sein Opfer, einen 63-Jährigen, heimtückisch niedergestochen haben. Der Fall schlug damals Wellen im beschaulichen Weil der Stadt.

Es ist ein ungewöhnlicher Angeklagter, der auf der Bank des Stuttgarter Landgerichts Platz nimmt. Der Mann mit der Brille und den grauen Haaren ist 76 Jahre alt und hat bisher ein tadelloses Leben geführt. Doch nun wird er vor der ersten Schwurgerichtskammer mit dem schwerstmöglichen Tatvorwurf konfrontiert: Er soll im vergangenen Juni einen 63-jährigen Mann in der Weil der Stadt heimtückisch umgebracht haben, die Anklage lautet auf Mord.

 

Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, am 4. Juni gegen 18.30 Uhr den Mann in der Unterführung der S-Bahn-Station Weil der Stadt abgepasst und dann unvermittelt mit einem Jagdmesser auf ihn eingestochen zu haben. Das Opfer habe mit keinem Angriff gerechnet. Die acht Zentimeter lange und einen Zentimeter breite Klinge des Messers habe den linken Lungenflügel und die linke Herzkammer getroffen. „Das Opfer folgte dem Angeklagten noch in die S-Bahn, wo es zusammenbrach und auch durch einen alarmierten Notarzt nicht wiederbelebt werden konnte“, schloss die Staatsanwältin Catharina Collmer die Anklage.

Sonderkommission „Kepler“ ermittelt den mutmaßlichen Täter

Zum Tatvorwurf wollte sich der 76-Jährige am ersten Verhandlungstag nicht äußern. Sein Verteidiger Hans Bense erklärte jedoch, er werde zu gegebener Zeit eine Erklärung abgeben. Bense deutete an, dass die Darstellung der Staatsanwaltschaft bestritten werde und man von einer Notwehr-Situation und einer Handlung im Affekt ausgehen müsse.

Der Fall hatte im Sommer Wellen im beschaulichen Weil der Stadt geschlagen. Die Bevölkerung war regelrecht in Aufruhr. Eine Sonderkommission namens „Kepler“ wurde eingerichtet, mit Fotos des Opfers wurde nach Zeugen gesucht – denn die Tat hatte an einem belebten Ort stattgefunden. Es gab Videoaufzeichnungen aus dem Bahnhofsbereich. Diesen zufolge waren zu diesem Zeitpunkt mehrere Passantinnen und Passanten auf dem Bahnsteig. Denn an dem Tag fand auch das Frühlingsfest des Musikvereins Stadtkapelle Weil der Stadt statt.

Der Angeklagte liebt Bücher: er hat eine Bibliothek mit 1700 Werken

Zu Beginn des Prozesses machte der überaus höflich auftretende und redegewandte Angeklagte nur Angaben zu seiner Person und ließ dabei einen vorbildlichen Lebenslauf erkennen. Er wuchs in der Nähe von Pforzheim auf und absolvierte eine Lehre als Großhandelskaufmann. Mit Mitte 20 wechselte er zu einer Versicherung, wo er sich als Spezialist für Buchhaltung und Rechnungswesen etablierte. Nach einer vierjährigen Auslandsstation in Ungarn wurde er zum Abteilungsdirektor mit Prokura befördert, die er bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2010 bekleidete. Bis zu seiner Verhaftung war er zudem als Dozent für Buchhaltung und Rechnungswesen tätig. Mit seiner zweiten Ehefrau hat er zwei Kinder, seit 44 Jahren lebt er in seinem Haus in Renningen. Der Literaturliebhaber besitzt nach seinen Angaben eine Bibliothek mit rund 1700 Büchern, hat es als Läufer bis zum Marathon gebracht und sammelt zudem Münzen.

Haft ist „furchtbar“

Nur einmal verlor er beim Prozessauftakt die Fassung, als ihn der Vorsitzende Richter Joachim Holzhausen fragte, wie es ihm in der Haft gehe. „Furchtbar, ich muss mich selbst immer wieder aufbauen“, erzählte er schluchzend. Aber er sei glücklich, dass er nun eine Stelle in der Gefängnisbibliothek gefunden habe.

Der Prozess am Landgericht wird am 25. November fortgesetzt, das Urteil soll am 14. Dezember gefällt werden.