Atrio und die Stadt Leonberg müssen sich auf die Neuerung noch einstellen.

Leonberg - Seit mehr als 50 Jahren kümmert sich der Verein Atrio in Leonberg um Menschen mit Behinderungen, betreut sie, pflegt sie und beschäftigt sie auch in den gemeinnützigen Behindertenwerkstätten. Kurz vor Ostern kommt bei dem Verein ein wenig Hektik auf. Das Bundesverfassungsgericht hat schon Ende Januar entschieden, dass Menschen, die wegen einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung einen gerichtlich bestätigen Betreuer haben, nicht von Wahlen ausgeschlossen werden dürfen. Dies aber wird bereits für die Europawahl am Sonntag, 26. Mai, angewandt.

 

Stimmrecht bei Kommunal- und Europawahl

„Die Entscheidung ist noch neu. Wir müssen jetzt erst einmal klären, was für uns im Einzelnen zu tun ist“, sagt Thomas Kolbeck Käfer, der bei Atrio den Bereich Förderung und Betreuung leitet. Das Land Baden-Württemberg hatte einen entsprechenden Wahlausschluss im Landesgesetz bereits Anfang April außer Kraft gesetzt, damit die Entscheidung auch für die Kommunalwahlen am 26. Mai greifen kann.

Das Urteil habe Thomas Kolbeck Käfer zufolge in jedem Fall Auswirkung auf Menschen, die von Atrio gepflegt und beschäftigt werden. Wie viele das genau sind, könne er nicht sagen. Die Stadt Leonberg teilt auf Anfrage mit, dass im gesamten Stadtgebiet 36 Menschen betroffen sind. „Wir haben die entsprechenden Personen in das Wählerverzeichnis für die Kommunalwahl aufgenommen“, erklärt der Sprecher der Stadt, Tom Kleinfeld. Andernorts müssen sich die Betroffenen beziehungsweise deren Betreuer selbst darum kümmern und bei der jeweiligen Kommune einen entsprechenden Antrag stellen.

Kompliziertes Thema und Verfahren

„Die Frage ist dann, ob diejenigen, die bislang nicht wählen durften, jetzt überhaupt wählen wollen“, meint Atrio-Bereichsleiter Kolbeck-Käfer. „Wie in der übrigen Bevölkerung auch.“ Wahlen seien nicht einfach zu verstehen und die Abstimmungen über die kommunalen Gremien besonders schwierig. Zum einen sind die Listen riesig – allein in Leonberg sind 32 Plätze zu vergeben, wodurch jeder Wähler auch 32 Stimmen hat. Zum anderen ist das Verfahren kompliziert mit Kumulieren (bis zu drei Stimmen für einen Kandidaten) und Panaschieren (Kandidaten verschiedener Listen ankreuzen).

Frage der Teilhabe

„Wie kann man Menschen mit Behinderung so komplexe Themen näher bringen? Wir thematisieren Wahlen und Parteien immer mal wieder. Am Ende ist es aber die alltägliche Frage: Wie kann man sie an den alltäglichen Dingen im Leben teilhaben lassen“, versucht Kolbeck-Käfer zu verdeutlichen.

Das fängt bei Erklärungen in einfacher Sprache an, beinhaltet aber auch gut lesbare Schrift und barrierefreie Wahllokale. Von denen gibt es laut Stadt nur zehn in Leonberg, wobei barrierefrei hier nur rollstuhlgerecht heißt. „Wir werden sehen müssen, wo das zugewiesene Wahllokal ist und ob unsere Bewohner an dem Tag eine Begleitperson haben. Falls nicht, werden wir sehen, wie wir sie unterstützen können“, berichtet der Atrio-Bereichsleiter. Nicht alle Menschen, die in den Atrio-Wohnheimen leben, hätten noch Angehörige. Dennoch beschäftigten sich die Bewohner viel mit aktuellen Themen. „Sie tun das auf ihre Weise und wollen sich auch beteiligen“, sagt Thomas Kolbeck-Käfer.