Premiere für Stadtführung rund um die Lebensverhältnisse in Leonberg von 1650 bis 1900.

Leonberg - Zu einer Premiere im Reigen der Stadtführungen in Leonberg hat Sieglinde Rehm am Sonntag eingeladen. Nicht um trockene Baugeschichte geht es ihr, sondern um lebendige Geschichten zu Schicksalen und Lebensbedingungen der Menschen von 1650 bis 1900. Sieglinde Rehm ist zum ersten Mal als Stadtführerin unterwegs. Sie ist einem Aufruf der Stadt gefolgt, die Lokalhistoriker für ihre Führungen gesucht hatte.

 

Für die ehemalige Lehrerin eine gute Gelegenheit, sich eingehender mit der Stadt auseinanderzusetzen, in der sie selbst seit 20 Jahren lebt. Gemeinsam mit der Leonberger Stadtarchivarin Bernadette Gramm hat sie die Führung konzipiert. Als Basis diente im Wesentlichen das Buch „Nonne, Magd oder Ratsfrau“. Frauenleben in Leonberg aus vier Jahrhunderten, das vom Stadtarchiv herausgegeben wird. Es sind eher weniger bekannte historische Eckpunkte mit sozialem Hintergrund, die die beiden Frauen herausgegriffen haben. Einige davon zeugen von der Fortschrittlichkeit Leonbergs in seiner Zeit, andere aber auch von unsäglichem Gerüchtewesen und seinen Folgen.

Industrieschule war modern

So gab es zum Beispiel in Leonberg ab 1871 die erste württembergische Rettungsanstalt für gefallene Mädchen. Vor den Stadttoren Leonbergs, auf dem Gelände hinter der ehemaligen Hauptpost, sollten junge Frauen durch Strenge und religiöse Erziehung wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden. Der Aufenthalt hier war freiwillig, es gab keine körperlichen Strafen und wer zwei Jahre lang verschiedene Arbeitsstationen durchlief, konnte später mit etwas Glück Anstellung als Magd finden.

Die Anstalt hatte einen guten Ruf. Dies änderte sich, als mit Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches 1900 hier im Rahmen der Fürsorge junge Frauen zwangsweise eingewiesen wurden. Die Anstalt bestand bis 1963.

Ganz modern zeigte sich Leonberg auch schon früher mit seiner Industrieschule, die auf dem Gelände der ehemaligen Spitalkirche 1817 errichtet wurde. In Zeiten wirtschaftlicher Not in Württemberg gründete Königin Katharina einen Wohlfahrtsverein, der unter anderem die Industrieschulen fördern sollte. Für die Jungen standen nachmittags für zwei Stunden ganz praktische Themen auf dem Stundenplan, sie lernten im Sommer in der Baumschule oder im Weinberg neue Anbaumethoden, im Winter machten sie Seile oder flickten Säcke. Die Mädchen lernten Sticken und Nähen. Etwa ein Drittel aller Kinder besuchten diese Industrieschule zusätzlich zum normalen Unterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen. Wer regelmäßig mitmachte, bekam das Prädikat „Fleißig“, damals ein hohes Lob. „Es war aber wohl schwierig, Lehrerinnen für die Schule zu finden“, hat die neue Stadtführerin Sieglinde Rehm entdeckt, „denn sie durften nicht verheiratet sein“. Später wurden Handarbeits- und Werkunterricht in den regulären Schulalltag integriert.

Luxusversorgung in Zeiten bitterer Armut

Von 1937 an half Friedrich Röcker Auswanderungswilligen bei der Organisation ihrer Reise in die USA. Im Jahr zuvor hatte er selbst ein halbes Jahr dort verbracht, um sich mit den Bedingungen vertraut zu machen. Das Geschäft lief so gut, dass er 1851 im Haus am Marktplatz Nummer 1 eine Auswanderungsagentur einrichten konnte. Im Vertrag mit den Auswanderern wurde genau festgehalten, wohin die Reise geht und was es unterwegs zu essen gibt: gesalzenes Ochsen- und Schweinefleisch, Kartoffeln und Butter oder auch Früchte waren dabei. Eine Luxusversorgung in Zeiten bitterer Armut in Württemberg. Von 1815 bis 1870 haben insgesamt über 100 000 Menschen das Land verlassen.

Wie schnell man in Württemberg gerade im Mittelalter ins Gerede kommen konnte, musste die Pfarrersmagd Anna Kugelmann um 1655 erfahren. Die junge Frau sorgte für einen deutlich älteren verwitweten Pfarrer, was schnell für Gerüchte sorgte, auch weil sie plötzlich stattliche Kleider trug. Die Heirat mit einem anderen Mann ließ die Gerüchte verstummen.

Wunderheilung und Hebammen

Weitere wichtige Stationen der neuen Führung sind unter anderem die Wunderheilung der Katharina Hummel 1644, die Hebammenwahlen zwischen 1723 und 1895 und 1880 der Aufruf zu einem Frauenstreik für den Bau von Wasserleitungen.