Der Leiter des ASG Leonberg schaltet wegen eines internen Klassen-Chats die Polizei ein.

Leonberg - Auch Tage danach kann Klaus Nowotzin, der Leiter des Leonberger Albert-Schweitzer-Gymnasiums (ASG), seine Bestürzung nicht verbergen: Ausgerechnet an seiner Schule, die gerade im Bereich der politischen Bildung einen exzellenten Ruf genießt, wurden in einem internen Chat einer neunten Klasse Bilder rechtsradikalen, sexistischen und menschenverachtenden Inhalts verschickt.

 

Zu sehen waren unter anderem Hakenkreuze oder Hitler selbst. Eine Lehrerin wurde als Emoji mit zustimmender Geste abgebildet, eine andere Pädagogin ist ebenfalls zu sehen. Die fünf in Verdacht stehenden Schüler der neunten Klasse verschickten offenbar zudem eine weibliche Brust mit Hitlergesicht und weitere sexualisierte Darstellungen. Menschen mit Down-Syndrom werden in dem klasseninternen Chat verunglimpft, unter der Abbildung eines Maschinengewehrs ist zu lesen: „Das löst bis zu 1800 Asylanträge pro Minute.“

Große Betroffenheit

Nicht zuletzt wegen der großen Betroffenheit der beiden im Chat dargestellten Pädagoginnen und der Klassenlehrerin wendet sich Nowotzin an die Polizei – zum ersten Mal in den zehn Jahren, die er das ASG leitet. Andere Vorkommnisse konnten bisher intern geregelt werden. So hatten vier Schüler einer siebten Klasse Fake-Accounts von vier Lehrerinnen erstellt. Sie wurden für zwei Tage vom Unterricht ausgeschlossen. Der Fall wurde schulintern kommuniziert und offensiv diskutiert.

Auch mit einem anderen Vorfall konfrontierte der Direktor die Schüler unmittelbar: Ein von Jugendlichen angefertigtes Kunstwerk, das in einem Flur stand, war zerstört worden. Nowotzin fragte die Schüler, warum sie die Kreativität ihrer Kameraden mutwillig zerstören. Eine Sozialarbeiterin ging in die Klasse und thematisierte die Wege zu einem fairen Miteinander. Immer, so schien es, konnten Probleme bisher mit pädagogischen Mitteln gelöst werden.

„Sowas läuft bundesweit rauf und runter“

Doch die Nazi-Symbole in dem Klassen-Chat waren für den erfahrenen Schulleiter Nowotzin zu viel: „Ich habe auch gar nicht die Zeit, die möglichen Täter zu ermitteln“, sagt der 64-Jährige im Gespräch mit unserer Zeitung. „Das ist Polizeiarbeit. Die haben dafür Spezialisten.“

In der Tat sind Schüler-Chats mit Nazisprüchen, rassistischen oder anderen verunglimpfenden Inhalten für die Ermittlungsbehörden nichts Ungewöhnliches.

„So etwas läuft bundesweit rauf und runter“, sagt Peter Widenhorn, der Sprecher des zuständigen Polizeipräsidiums Ludwigsburg. Der Kriminalist ordnet die Leonberger Tat als „jugendtypische Verfehlung“ ein. „Eine politische Ideologie mit einem messbar kriminellen Hintergrund ist zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht erkennbar.“

Deshalb prüfe die Staatsanwaltschaft noch, ob es sich beim Fall im ASG überhaupt um ein Strafverfahren handelt. Die Mitteilungen blieben im geschlossenen Raum des Chats und sind auch nicht an Außenstehende gelangt. Wer hinter den Mitteilungen steckt, ist allerdings geklärt.

Dass die Vorgänge an seiner Schule offenkundig kein Einzelfall sind, tröstet Klaus Nowotzin nicht. „Die Schüler einer neunten Klasse sind in der Regel 15 Jahre alt und müssten etwas im Hirn haben.“ Zumal es ja nicht nur um die Chat-Initiatoren geht: „Alle, die im Klassenchat sind, haben davon gewusst“, sagt Nowotzin.

Ursache: Dauerverfügbarkeit von Smartphones?

Doch Gelegenheit, sich mit der Vergangenheit und der Gegenwart auseinanderzusetzen, haben die Schüler des ASG ausreichend. Die besagte neunte Klasse besuchte erst unlängst das ehemalige Konzentrationslager Natzweiler im Elsass. Das Gymnasium arbeitet eng mit der Leonberger KZ-Gedenkstätteninitiative zusammen und ist erfolgreich bei Schülerwettbewerben zur politischen Bildung. Eine feste Institution ist das politische Frühstück, zu dem regelmäßig regionale Landtagsabgeordnete aller Couleur ins ASG kommen, um mit den Schülern über aktuelle Politik zu diskutieren.

Eine mögliche Ursache für solche Chats sieht Nowotzin in der Dauerverfügbarkeit von Smartphones. So weist der ASG-Chef die Eltern der neunten Klasse in einem eindringlichen Brief darauf hin, dass die Nachrichten erst gegen 23 Uhr verschickt wurden. „Und das bei 15-Jährigen! Hier sollten Sie sich als Erziehungsberechtigte Gedanken machen und eventuell einschreiten“, gibt er den Müttern und Vätern mit auf den Weg.

Kein Trend zum rechten Gedankengut

Im Leonberger Albert-Schweitzer-Gymnasium selbst gibt es eine klare Regel: Handys dürfen nur in der Mittagspause genutzt werden, ansonsten sind sie tabu. „Wenn zum Beispiel eine Mutter in einem anderen Zeitraum ein Anliegen hat, muss sie sich bei uns im Sekretariat melden“, sagt Klaus Nowotzin.

Einen Trend zum rechten Gedankengut stellt der Schulleiter in seinem Haus nicht fest: „Das können die Kollegen nicht bestätigen.“ Gleichwohl würden einige Jugendliche ausprobieren, wie weit sie mit Provokationen gehen könnten. Auch das Thema Mobbing im Internet sei nach wie vor sehr relevant. Für den Pädagogen Nowotzin ist auch das eine Auswirkung des „gewaltigen Sammelsuriums, das im Netz auf die Schüler einprasselt.“

Der ASG-Direktor bekennt sich zum offenen Umgang mit dem Thema: „Der Pädagogik sind Grenzen durch die Einsichtsfähigkeit einzelner Schüler gesetzt. In diesem Fall muss klargemacht werden, dass bestimmte Taten nicht nur von der Schule, sondern auch von unserer Gesellschaft missbilligt werden.“

Durch die begonnenen Sommerferien wird der Vorfall wohl keine größeren Wellen mehr schlagen. Auch weil nicht unbedingt mit einer strafrechtlichen Verfolgung zu rechnen ist. Aber eines dürfte den jungen Übeltätern wohl nicht erspart bleiben: Sie müssen mit ihren Eltern bei der Polizei erscheinen. Für Klaus Nowotzin eine durchaus sinnvolle Form der Bestrafung: „So etwas bleibt hängen.“

31 antisemitische Vorfälle in 15 Monaten

Insgesamt 31 Vorfälle mit einem antisemitischen oder einem anderen religiös-ethnischen Hintergrund haben Schulen in Baden-Württemberg den zuständigen Aufsichtsbehörden mitgeteilt. Das teilte das Kultusministerium auf Anfrage unserer Zeitung mit. Die öffentlichen Schulen sind seit April des vergangenen Jahres verpflichtet, offenkundig rassistische Vorfälle zu melden.

Den Leonberger Klassen-Chat nimmt die Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) keineswegs auf die leichte Schulter :„Wir alle sind aufgefordert, Antisemitismus entschieden entgegenzutreten und wachsam gegenüber antisemitischen Tendenzen zu sein. Hier spielen die Schulen in unserem Land eine wichtige Rolle“, kommentiert die Ministerin die aktuellen Vorfälle am ASG.

Leonberg ist ein besonders krasser Fall

„Rechtsradikale und diskriminierende Parolen sowie verfassungsfeindliche Symbole haben weder im Klassenzimmer noch im Klassen-Chat etwas zu suchen. Wir dürfen diese Vorfälle nicht verschweigen, sondern müssen alle konsequent aufarbeiten. In besonders krassen Fällen wie in Leonberg selbstverständlich unter Einbeziehung der Strafverfolgungsbehörden“, sagt Eisenmann. „Deshalb unterstützen wir unsere Schulen dabei, gegen Antisemitismus und Diskriminierung Widerstand zu leisten. Wir sensibilisieren Schulleitungen und bilden Lehrkräfte fort.“

Die Ministerin spricht sich für eine enge Zusammenarbeit der Schulen mit Gedenkstätten aus. So kooperiert das ASG mit der Leonberger KZ-Initiative. Außerdem sind alle Schulen aufgefordert, die Förderung des Zusammenhalts und des respektvollen Umgangs miteinander in ihrem Schulcurriculum zu verankern.