Ein Team des Leonberger Seehauses besucht das kriegsgebeutelte Land unter einem anderen Aspekt: Welche Perspektiven haben dort Häftlinge und ihre Familien?

Unabhängig von Tod und Zerstörung an den Frontverläufen in der Ukraine gibt es ein Thema, das es selten in die Schlagzeilen der Medien findet: der Strafvollzug in dem osteuropäischen Land. Für Tobias Merckle ist es aber ein besonderes Anliegen, sich um die Situation der Gefangenen in Ländern zu kümmern, in denen rechtsstaatliche Standards nicht so ausgeprägt sind, wie in den westlichen Demokratien.

 

Merckle ist geschäftsführender Vorstand des Seehaus, jener Einrichtung am Stadtrand von Leonberg, in der jugendliche Straftäter in einem freien Vollzug auf ein Leben ohne Verbrechen vorbereitet werden. Im Seehaus richtet man allerdings nicht nur den Blick auf das eigene Schaffen. Die christliche Einrichtung ist Mitglied der internationalen Hilfsorganisation Prison Fellowship, die sich nicht um um die Inhaftierten selbst kümmert, sondern auch um deren Angehörige.

Mit zwei Lieferwagen Richtung Osten

Tobias Merckle war schon in Kolumbien, wo die Zustände in den Gefängnissen nichts mit dem zu tun haben, was in Europa üblich ist. Einen anderen Eindruck hat der Seehaus-Chef allerdings jetzt von einem Besuch aus der Ukraine mitgebracht. „Es hat sich sehr viel getan“, resümiert er. „Die Situation in den Anstalten ist wesentlich besser geworden.“

Mit zwei Lieferwagen hatte sich ein siebenköpfiges Team aus dem Seehaus unlängst in Richtung Osten aufgemacht. Drinnen waren Lebensmittel, Kleidung und andere Hilfsgüter. Den Kontakt zum Justizministerium in Kiew hatte die ukrainische Partnerorganisation von Prison Fellowship hergestellt. Denn so ohne Weiteres kommen Ausländer natürlich nicht hinter ukrainische Gefängnismauern.

Die alltäglichen Grausamkeiten des Krieges

Der Weg führte über Rumänien und Moldawien. An der Grenze war erst einmal Warten angesagt. „Die lassen sich Zeit“, berichtet Merckle. Erst mithilfe kleinerer „Aufmerksamkeiten“ ließen sich die Kontrollmodalitäten beschleunigen. In der Ukraine erlebten die Helfer aus Leonberg die Grausamkeit des Krieges, die vordergründig nichts mit den Kämpfen an der Front zu tun hat. Überall ausgebrannte Autos – die Hinterlassenschaften von Flüchtenden, die unter russischen Beschuss geraten waren. „Das sind so viele, dass man sie regelrecht stapelt“, erinnert sich Merckle.

Auffällig für die Helfer aus dem Seehaus auch die vielen Kontrollen: ein Checkpoint nach dem anderen. Die Deutschen sehen überall zerstörte Häuser, kleinere Gebäude und Hochhäuser – gerade in den beiden Städten Butscha und Iprin, wo die russische Soldateska besonders grausam gewütet hat. Manche Häuser haben die Russen niedergebrannt, nachdem sie sich dort einquartiert hatten.

Überall zerstörte Häuser

Beklemmend auch die Eindrücke in Kiew selbst. Auf dem Maidan, dem zentralen Platz, auf dem die Ukrainer für ihre Unabhängigkeit demonstrierten, stehen zerstörte Panzer und mit Schüssen durchlöcherte Autos. „Welt helft uns!“ prangt in großen Lettern auf aufgestapelten Sandsäcken. Die Leonberger Delegation wird im Justizministerium empfangen. „Das Ministerium ist sehr dankbar für jede Unterstützung für die Gefängnisse, für die Gefangenen, die Beamten und jeweils ihre Familien“, ist Merckle von den Gesprächen sehr angetan. „ Sie sind sehr interessiert, das Modell des Jugendstrafvollzugs in freien Formen wie wir es im Seehaus praktizieren, auch in der Ukraine umzusetzen.“

Im Freizeitheim von Prison Fellowship ist ein Fest organisiert worden: Kinder von Gefangenen und Beamten vergessen für ein paar Stunden Krieg, Not und Leid: Sie tanzen und singen „This is such a happy Day“. Tobias Merckle ist positiv überrascht: „Es ist faszinierend, dass die jungen Leute ihre Freude behalten.“

Ex-Mafia-Boss hilft jetzt anderen

Hoffnungsvoll auch der Gesamteindruck beim Besuch in einem Gefängnis. „Für Osteuropa sind das gute Haftbedingungen“, lobt Merckle. „Hier gibt es sogar Lebenslängliche, die sich Tiere halten dürfen. Das ist in Deutschland nicht selbstverständlich.“ Das Engagement von Prison Fellowship lohnt sich: Der Leonberger Seehaus-Chef berichtet von einem früheren Mafia-Boss, „der die ganze Gegend kontrolliert hat“. Jetzt macht er sehr erfolgreich legale Geschäfte und hat sehr viele ehemalige Häftlinge eingestellt, um ihnen den Aufbruch in ein neues Leben zu ebnen.

In ihren Bemühungen, Gefangenen und deren Familien neue Perspektiven zu geben, können die Helfer auch auf die heimische Wirtschaft bauen, etwa auf den Waiblinger Sägen-Hersteller Stihl.

Konzept Terror und Angst

Nicht nur für Gefangene ist der Weg in die Zukunft hart und steinig. „Die Gesamtlage ist extrem schwierig, alles ist sehr teuer“, hat Tobias Merckle beobachtet. „In der ganzen Ukraine gibt es jeden Tag Bombenalarm. Das Konzept der Russen ist es, Terror und Angst zu verbreiten.“

Dennoch blicken die Leute vom Seehaus nach vorne. „Wir überlegen, wie wir beim Wiederaufbau helfen können“, sagt der Chef. Auch wollen sie die Ukrainer unterstützen, um deren Gefangenen aus russischen Straflagern herauszuholen. „Das ist aber nicht so einfach“, weiß Merckle. „Da muss man gut verhandeln.“