Wenn in einer neunten Klasse 30 Schüler sitzen, haben sich – im Durchschnitt – acht Schüler schon einmal selbst verletzt. Was kann man dagegen tun?

Weil der Stadt - Eigentlich geht es um was ganz anderes. Die Jugendliche sitzt im Büro von Ute Bayer. Doch dann öffnet sie sich ihr. Sie sagt, dass sie sich ritzt, sich weh tut, sich selbst verletzt. „Dieses Thema ergab sich in unserem Gespräch“, erinnert sich die Schulsozialarbeiterin an der Realschule Weil der Stadt. „Von sich aus verbergen das die Schüler meistens.“

 

„Selbstverletzendes Verhalten“ nennen Psychologen es, wenn sich Jugendliche schneiden, ritzen, schlagen oder kratzen. Ein Thema, das Lehrer und Pädagogen überall beschäftigt, weil es so weit verbreitet ist, über das aber kaum gesprochen wird. Wenn in einer neunten Klasse 30 Schüler sitzen, haben sich dort – im Durchschnitt – acht Schüler schon mal selbst verletzt. Zwei von ihnen so schwer, dass sie therapeutische Hilfe bräuchten.

Aktiv auf die Schüler zugehen

Woran liegt das? Und was kann man tun? Damit haben sich die Schulsozialarbeiter und Lehrer in Weil der Stadt mit der Ulmer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Rebecca Brown bei einer Tagung beschäftigt. Ein Stichwort taucht dabei immer wieder auf: Beobachten. „Sprechen Sie die Schülerinnen und Schüler an, wenn Sie etwas beobachtet haben“, lautet eine der Empfehlungen von Rebecca Brown, insbesondere an die Lehrer. Und: „Weisen Sie auf die Möglichkeit der Schulsozialarbeit hin.“

Noch vor wenigen Jahren war Schulsozialarbeit ein Fremdwort an Schulen in Deutschland, aber das hat sich geändert. In Weil der Stadt arbeiten mittlerweile an den meisten Schulen solche Pädagogen, außer am Gymnasium. Das sind Fachleute wie Ute Bayer, die deutlich macht, wie wichtig eine kontinuierliche Arbeit mit den Schülern ist, um Vertrauen aufzubauen.

Seit fünf Jahren ist sie schon an der Realschule. Mit den Fünftklässlern arbeitet sie immer besonders intensiv, um die Basis für das Vertrauen zu legen. „Die älteren Schüler kennen mich somit nicht erst seit kurzem, sondern seit sie klein sind“, sagt Bayer. Die Schulsozialarbeiterin gehört selbstverständlich zum Schulalltag dazu, ist ansprechbar, hat offene Türen. Und was macht sie dann genau? „Ich bin halt da“, sagt Bayer, meint das aber nicht lapidar, sondern will die Hürde, mit ihr zu sprechen, möglichst niedrig halten.

Foto: factum

Ein Gesprächsraum, der die Grundlage dafür ist, dass sich Schüler mit ihren Problemen öffnen, so wie jene junge Frau, die sich ritzt. „Denn normalerweise zeigt man so was nicht einem Erwachsenen“, sagt Ute Bayer. Sie betont, dass selbstverletzendes Verhalten keine psychische Krankheit ist, dafür aber hochansteckend unter Jugendlichen, weshalb wir in diesem Text nicht auf alle Details eingehen.

20 bis 30 Prozent der Jugendlichen probieren das zumindest einmal aus. „Das ist eine sehr hohe Zahl“, sagt auch Susanne Künschner, die beim „Verein für Jugendhilfe“ für den nördlichen Kreis Böblingen zuständig ist. Bei diesem Verein sind viele Jugend-Sozialarbeiter im Kreis Böblingen angestellt. „Es ist enorm wichtig, dass unsere Schulsozialarbeiter und auch die Lehrer mit diesem Thema kompetent umgehen.“ Susanne Künschner lobt die Weiler Schulsozialarbeiter um Ute Bayer dafür , dass sie sich mit der Tagung fachliches Know-how geholt haben. „Das finde ich großartig, denn die Teilnehmer können das Wissen weitervermitteln und in die Lehrerschaft Inputs geben.“

„Es zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten“

Beim Ritzen können Narben entstehen, tiefe Wunden bis hin zur Blutvergiftung. „Das zieht sich auch durch alle gesellschaftlichen Schichten“, hat Bayer festgestellt. Es sei also nicht so, dass ein solches Verhalten sich bei Kindern aus schwierigen Familienverhältnissen häuft. Die Prävention ist deshalb ganz wichtig. Ute Bayer macht mit den Klassen an der Realschule ein soziales Kompetenztraining, bei dem die Schüler lernen, als Klasse zusammenzuwachsen, zu kommunizieren, zu kooperieren. „Alles, was für das Klassenklima förderlich ist, hilft bei der Vorsorge“, ist Ute Bayer überzeugt.

Wichtig sei dann, aufmerksam zu sein, die Schüler zu beobachten. Hinweise können sein, wenn Schüler häufig nicht erklärbare Schrammen oder Narben haben, unpassende Kleidung tragen, um Wunden zu verdecken oder ungewöhnlich viel Zeit auf der Toilette verbringen. Hochansteckend ist das Verhalten, weil es ein Gefühl der Zusammengehörigkeit schafft oder eine Reaktion der Erwachsenenwelt provoziert, hat die Therapeutin Rebecca Brown herausgefunden.

Wenn es dann aber passiert ist, muss die Schulsozialarbeiterin handeln. „Ich versuche zu verstehen, was dahinter steckt, warum die Schülerin oder der Schüler so gehandelt hat“, sagt sie. Ist es Leistungsstress? Ist es Liebeskummer? Mobbing? Oder ein Todesfall? „Fast alle sagen dann: Das baut Druck ab.“

„Ich lasse mir die Verletzungen immer zeigen“

Das deckt sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Rebecca Brown. Die Jugendlichen versuchen durch selbstverletzendes Verhalten, Stress und Druck abzubauen. Konflikte spielen eine Rolle, Stress in der Schule, Mobbing ist ein großes Problem. Die Neurobiologie bestätigt, dass Schmerz als Erleichterung und damit als positiv wahrgenommen wird.

„Ich lasse mir die Verletzungen immer zeigen“, berichtet Bayer. In einem Fall sei es so heftig gewesen, dass der Notarzt helfen mussten. Die Schulsozialarbeiterin macht auch Grenzen ihrer Arbeit deutlich. Sie ist keine Therapeutin, sie behandelt nicht: „Ich versuche, Vertrauen zu gewinnen.“ Rebecca Brown von der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiatrie nennt das eine „respektvolle Neugier“. Wichtig sei es für die Erwachsenen, nicht geschockt zu reagieren und kein Urteil zu fällen, sondern die Jugendlichen zu akzeptieren.

„Und ich versuche, einzuschätzen, wen wir mit ins Boot holen müssen“, ergänzt Ute Bayer. Das ist eine ständige Gratwanderung, auch zwischen ihrer Schweigepflicht und der Notwendigkeit, die Eltern einzubeziehen. „Meine Erfahrung zeigt aber, dass man mit Kindern offen sprechen kann – wenn man ihnen zum Beispiel sagt, warum es gut ist, dass die Eltern Bescheid wissen.“