Waldenser aus Hessen besuchen den Ort, aus dem ihre Vorfahren vor fast 300 Jahren weggezogen sind.

Rutesheim - Es ist irgendwie ein „retour à la nature“ à la Jean-Jacques Rousseau, was am Wochenende in Perouse stattfindet. Es ist ein Zurück zu den Wurzeln, zu dem Punkt, an dem alle noch gleich arm waren. Die Waldensergemeinde hat die Nachkommen derer zu Gast, die sich vor 296 Jahren von hier aus auf den Weg gemacht haben, ihr Glück in der Welt zu finden. Die evangelische Kirchengemeinde hat nämlich eine Reisegruppe von rund 30 Menschen aus den hessischen Waldenserorten Gottstreu und Gewissenruh zu Gast.

 

Kaum eine Generation später, als die Waldenser 1699 in Württemberg heimisch wurden, hat sie die wirtschaftliche Lage zwischen 1718 und 1720 gezwungen, sich mit dem Gedanken zu befassen, weiter in Richtung Osten zu wandern, um ein Auskommen zu haben. In Württemberg war das Land knapp. „Es gab zu viele Menschen am Ort, es reichte nicht für alle“, sagt Thomas Ende. Selber ein Nachfahre der Waldenser und wohnhaft in Veckerhagen (Landkreis Kassel), beschäftigt er sich seit 1982 mit der Waldensergeschichte. Er steht dem Verein „Waldenserfreunde Gottstreu-Gewissenruh“ vor. Um die Forschungsergebnisse zugänglich zu machen, wurde 1991 ein Waldensermuseums in Gottstreu gegründet, dessen Träger der 1993 gegründete Verein ist.

Langwierige Verhandlungen mit Stuttgart

Nach langwierigen Verhandlungen mit der Stuttgarter Landesherrschaft wurde zumindest den Ärmeren oder „unruhigsten Elementen“ die Auswanderung gestattet. Die Hauptgruppe zog im Juli/August 1720 mit mehr als 400 Menschen fort – aus Perouse, Pinache, Serres, Großvillars, Dürrmenz. Aus Perouse sind am 15. Juli 1720 insgesamt 20 Familien mit 87 Personen aufgebrochen, immerhin fast ein knappes Drittel der damaligen Einwohner. Nach vier Wochen kamen sie in Berlin an, wo ihre Vermögensverhältnisse überprüft wurden. „Sind lauter Bettler“, urteilte König Friedrich Wilhelm I. Die Weiterreise nach Ostpreußen wurde ihnen untersagt, einige gingen zurück nach Württemberg. Die restliche Gruppe zog über Altona nach Fredericia/Dänemark, wo eine geplante Ansiedlung erneut scheiterte.

Auf dem Rückweg in Richtung Süden bemühten sich die Waldenser um Aufnahme im heute niedersächsischen Solling. Das Vorhaben scheiterte, da man dort letztlich nur „natürliche Untertanen“ (also Einheimische) ansiedeln wollte.

„In dieser dramatischen Lage wurde Landgraf Carl von Hessen-Kassel zum Retter aus höchster Not“, weiß Thomas Ende. Den Entwurzelten übereignete er aus christlichem Mitleid Randbereiche des Reinhardswaldes. Er nahm die Waldenser auf und gründete für sie 1722 Gottstreu und Gewissenruh im Wesertal. Die Perouser ließen sich in Gottstreu nieder.

„Sechs Familien von den insgesamt zwölf Gründerfamilien, also die Hälfte des Ortes, bestand aus ehemaligen Perousern“, sagt Ende. Zunächst wurden in jedem der beiden Orte ein Dutzend Waldenserfamilien angesiedelt – einige Nachzügler folgten. Auch in den Folgejahren seien die Verbindungen zwischen Perouse und Gottstreu nicht völlig abgerissen, hat Ende recherchiert. Insbesondere bei Erbangelegenheiten, sonstigen Güterregelungen oder familiären Ereignissen gab es noch Kontakte. Nach 1750 verlor man sich allerdings aus den Augen. „Seit ein paar Jahren haben sich unsere Kontakte wieder intensiviert“, freut sich der Vereinsvorsitzende. So waren Perouser und Gottstreuer/Gewissenruher im Jahr 2013 auf einer gemeinsamen Reise in den Waldensertälern auf den Spuren ihrer Vorfahren unterwegs. 2016 machte sich dann eine Gruppe aus Perouse auf Spurensuche ins Hessische. „Und jetzt haben wir uns wieder“, sagt Thomas Ende und blickt erwartungsvoll auf das Treffen am Wochenende in Perouse ☺

Häuser haben noch heute französische Inschriften

In den Waldensersiedlungen Gewissenruh und Gottstreu weisen noch heute französische Gebäudeinschriften sowie französische Familiennamen auf die Herkunft der Kolonisten hin. Die Kolonien entstanden als Straßendörfer – innerhalb der Ortslage waren jeweils zwölf Parzellen für den Hausbau vorgesehen.

Einige der in Fachwerkbauweise errichteten Kolonistenhäuser aus der Zeit nach dem Jahr 1722 sind noch immer erhalten. Die Landwirtschaft und die Waldarbeit stellten damals die Lebensgrundlage der Ortsgründer und ihrer Nachkommen dar. In kirchlicher Hinsicht bildeten beide Siedlungen zunächst eine Gesamtgemeinde (église vaudoise). Bis in das Jahr 1825 war in den Gottesdiensten und im Schulunterricht die französische Sprache maßgebend.

Noch immer gelten Gottstreu und Gewissenruh bei den Nachbarn im Wesertal als „Franzosendörfer“, und deren Bewohner werden als „Franzosen“ bezeichnet. Französische Familiennamen wie Bertalot, Don, Mazet, Volle, Jouvenal und Seguin erinnern an die bemerkenswerte Geschichte der Waldensersiedlungen. Gegenwärtig zählt Gottstreu etwa 380 Einwohner, die Gewissenruher Dorfgemeinschaft besteht aus 90 Menschen.