Die Verwaltungsspitze und der Verein der Selbstständigen in Rutesheim fordern eine Lockerung im Einzelhandel.

Rutesheim - Werner Dengel ist zutiefst erbost. Er ist der Vorsitzende des Rutesheimer Vereins der Selbstständigen (VdS) mit über 100 Mitgliedern, vom Einzelkämpfer bis zum Mittelständler. In dem Gefühlsausbruch des Buchhändlers schwingt auch die große Sorge über die Nöte hunderter Familien mit, deren Lebensgrundlage gegenwärtig in vielen Fällen durch den Lockdown kurz vor der Zerstörung steht. Was bringt ihn so auf die Palme? „Zu den wirtschaftlichen Probleme kommt die fehlende Perspektive hinzu, gepaart mit einer großen Ungleichbehandlung, die niemand versteht“, zählt Dengel die Probleme der Einzelhändler und Dienstleister in seiner Heimatstadt auf – die stellvertretend für Hunderttausende landauf und landab stehen.

 

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So kann es auf keinen Fall weitergehen, sind sich die Bürgermeisterin Susanne Widmaier, der Erste Beigeordnete Martin Killinger und die Wirtschaftsförderin Elke Hammer sowie Werner Dengel und Winfried Albrecht vom Verein der Selbstständigen einig. Die lokale Wirtschaft müsse vor dem Ruin bewahrt werden. Deshalb wenden sich die Rathausspitze und der VdS in einem offenen Brief an die Landesregierung und die Abgeordneten für den Landkreis. Zum anderen arbeiten sie an einem Modell für Crowdfunding.

„Die örtliche Wirtschaft ist dramatisch in Gefahr, vielen steht das Wasser bis zum Hals“, äußert die Bürgermeisterin Susanne Widmaier ihre Besorgnis beim Treffen mit dem VdS-Vorstand. „Sie haben Probleme mit der Liquidität und sehen auch keine Perspektive, wieder öffnen zu dürfen.“

Lockdown am Inzidenzwert festmachen, ist falsch

Es sei lobenswert, dass die Corona-Teststrategien immer weiter ausgebaut würden, um Infektionsketten zu unterbrechen. Das führe aber zu einem Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenz und somit wieder weiter weg von dem ersehnten Wert 35, gibt die Rathauschefin zu bedenken. „Es kann doch nicht sein, dass die Unternehmen gegen die Wand gefahren werden“, sagt sie. Daher müssten an den Tisch der Entscheider nicht nur Virologen, sondern auch Ökonomen und Psychologen.

„Wir halten es für den falschen Weg, den Lockdown an einem Inzidenzwert festzumachen“, sagt auch Martin Killinger. „Es daran zu binden, kann bedeuten, dass es das ganze Jahr dauert“, macht er sich Sorgen. Den Lockdown unendlich zu verlängern, sei existenzbedrohend für den Einzelhandel. Natürlich sei es richtig und wichtig, gegen die Pandemie anzugehen, aber auch zu differenzieren.

Wie schnell ein Inzidenzwert kippen kann, zeige gerade das Infektionsgeschehen im Kreis Böblingen. Durch den Corona-Ausbruch in drei Seniorenheimen sei der rasant gestiegen. In Rutesheim selbst habe es zu Spitzenzeiten zwei Familien gegeben, die infiziert waren, sagt Killinger.

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Es sei nicht nur falsch, den Lockdown an einem Inzidenzwert festzumachen, auch kämen Regelungen hinzu, die nicht mehr nachvollziehbar seien und auch den Bürgern nicht zu vermitteln. Es stünden Fragen im Raum, warum beispielsweise kleinere Läden mit oft besonders durchdachten Hygienekonzepten nicht öffnen dürfen? „Die Buchhandlungen in Berlin sind die ganze Zeit über offen gewesen“, wirft Dengel ins Gespräch. Die Kunden würden praktisch gezwungen, beim Lebensmitteldiscounter zu kaufen, anstatt im Fachgeschäft, bemängelt der VdS-Stellvertreter Winfried Albrecht. „Die Supermärkte werden zu Blumenhändlern, Buchverkäufern und Anbietern für Gartenbedarf“, sagt Winfried Albrecht.

In dem offenen Brandbrief der Stadtverwaltung und des VdS an die Politiker fragen sich die Unterzeichner: „Warum darf eine große Zahl an Kunden in die Lebensmittelgeschäfte, während die kleinen Läden, die oft ein besseres Hygienekonzept haben und die Anzahl der Kunden viel besser kontrollieren können, nicht öffnen dürfen?“ Und sie bemängeln in dem Schreiben: „Der Online-Handel bei Billiganbietern boomt zwar, doch zeitgleich infizieren sich dort Menschen in den Verteilzentren. Steuereinnahmen daraus gibt es kaum. Im Verkauf ist bislang kein Hotspot bekannt geworden, in Verteilzentren schon.“

Und sie geben zu bedenken: „Wir nehmen wahr, dass sich zahlreiche Menschen in den großen Läden aufhalten, die nicht nur ihren täglichen Bedarf decken, sondern zum Bummeln gehen und einkaufen, um sich mit Menschen umgeben zu können. Warum dürfen sie nicht auswählen, in welches Geschäft sie zum Einkaufen gehen, solange das Hygienekonzept stimmt, und enger als beim Friseur geht es nun wirklich nicht mehr.“

Widmaier: Stimmung kippt, Nerven liegen blank

„Wir nehmen in der Bevölkerung wahr, dass die Stimmung kippt und die Nerven blank liegen“, sagt die Bürgermeisterin. Die Innenstädte bluten aus, Unternehmen müssen in die Insolvenz, Mitarbeiter werden arbeitslos. „Trotz Online-Handel, Abhol- und Lieferdiensten decken die geringen Einnahmen nicht einmal die Fixkosten“, weiß Einzelhändler Werner Dengel.

Und die Hilfen des Bundes? „Das können Sie vergessen, das ist realitätsfremd!“, schießt es aus Werner Dengel heraus. Die seien bislang nicht angekommen und vieles sei gesetzlich noch nicht auf den Weg gebracht. „Ich verschulde mich doch nicht auf Verordnung!“, sagt der Händler. Durch die vorhandenen Schnelltests könnten Infizierte nun schneller identifiziert und in Quarantäne geschickt werden, begrüßen die Unterzeichner. Dies sei ein wichtiger und richtiger Schritt auf dem Weg, die Pandemie zu bekämpfen, sind sie sich einig. Logischerweise werde durch mehr Tests aber die Inzidenz ansteigen.

Eindringlicher Appell an die Politik

Es gehe hier um Tage und Wochen, nicht mehr um Monate, heißt es in dem Brief zum Lockdown. Dies sei nicht mehr verhältnismäßig und auch vom Infektionsschutzgesetz nicht gedeckt. Deshalb die Forderung: „Wir appellieren eindringlich an die Politik, den Menschen im Einzelhandel zügig die Möglichkeit zu geben, mit gutem Hygienekonzept zu öffnen.“

„Niemand stellt hier die Ernsthaftigkeit der Coronapandemie in Frage“, betont Susanne Widmaier. „Unsere gemeinsame Sorge ist es, dass bei einem weiter andauernden Lockdown viele Läden überhaupt nicht mehr öffnen können, da die Rücklagen aufgebraucht sind. Wir befürchten, dass die Innenstadt verödet.“

Doch beim Jammern wolle man es nicht belassen, und so ist ein weiterer Ansatz, die örtlichen Einzelhändler, Dienstleister und Unternehmen zu unterstützen, momentan im Entstehen. Gemeinsam mit der Wirtschaftsförderin Elke Hammer arbeiten das Rathaus und der VdS an einer Möglichkeit, das sogenannte Crowdfunding zu nutzen. „Wir können als Stadt nicht einfach Geld geben, aber dafür gemeinsam mit einem Partner aus der Wirtschaft eine Plattform anbieten, mit der Bürger ihre Solidarität mit den Betroffenen zeigen können“, blickt Wirtschaftsförderin Elke Hammer in die Zukunft.