Ein Lastwagenfahrer hat einen Fußgänger getötet. Juristisch lässt dieser Fall keinen Spielraum, aber der Richter bekennt, dass er mit dem Strafrecht eigentlich nicht zu greifen ist. Selbst die Staatsanwältin scheint den Schuldspruch zu bedauern.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Waldenbuch - Ein Mensch ist qualvoll gestorben. Er wurde zu Tode geschleift unter einem Schwertransporter. Wer rein mathematisch rechnet, rechnet so: Dieses Leben war 3600 Euro wert, 90 Tagessätze mal 40 Euro. Zu dieser Geldstrafe hat das Amtsgericht Böblingen den Fahrer des Lastwagens verurteilt. Abgesehen davon, dass solche Rechnungen ohnehin nie aufgehen, ist dieser Fall „mit dem Strafrecht nicht zu ahnden, vielleicht von einer anderen Instanz“, sagt der Richter Horst Vieweg. „Das ist meine Entscheidung.“ Die gesamte Verhandlung dazu hat wenig mehr als eine halbe Stunde gedauert.

 

Das Strafrecht erzwingt, den 46 Jahre alten Fahrer der fahrlässigen Tötung schuldig zu sprechen, auch wenn niemand im Saal den Eindruck hat, dass ihn eine Schuld trifft. In einer Prozesspause bekennt die Staatsanwältin, sie habe „manchmal das Gefühl, dass ich am falschen Platz sitze“. Gemeint ist: auf dem Platz der Anklage, nicht dem der Verteidigung.

Das Leben eines Rentners endet, das des Fahrers gerät aus den Fugen

Es war der 28. Februar vergangenen Jahres, an dem das Leben eines Rentners endete. Es war außerdem der Tag, in dem das bisherige Leben des Angeklagten aus den Fugen geriet. Um kurz vor 9 Uhr musste er auf der Nürtinger Straße in Waldenbuch anhalten. An dieser Stelle gilt Tempo 30. Der parkende Lastwagen, der dem 46-Jährigen im Weg stand, war ordnungsgemäß abgestellt. Mehrfach fuhr er an, um am Hindernis vorbeizukommen. Mehrfach hinderte ihn der Gegenverkehr. Als der Weg frei war, fuhr er los. Fußgänger rannten schreiend hinter ihm her und gestikulierten wild, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Nach mehr als 60 Meter gelang es ihnen, den Unglücksfahrer zu stoppen – unter der Vorderachse seines Fahrzeugs war ein 86 Jahre alter Fußgänger eingeklemmt. Ein Hubschrauber brachte den Schwerverletzten in ein Krankenhaus. Der Rettungsdienst brachte den Unglücksfahrer in eine psychiatrische Klinik. Er stand unter Schock. Der 86-Jährige starb einige Tage später an multiplem Organversagen.

Um genau solche Unfälle zu vermeiden, ist in Lastwagen mit hoch gelegener Fahrerkabine ein zusätzlicher Spiegel montiert. Er gibt den Blick frei auf die Fläche vor der Front und rechts von ihr. Das Opfer war nur 1,62 Meter groß. Der Angeklagte schwört, dass er in den Spiegel geschaut hat. „Ich kann mich genau erinnern“, sagt er, „rechts waren keine Fußgänger.“ Er hatte jahrelang Schulbusse gefahren. Gerade für Schulbusfahrer sei der Blick in den Spiegel ein Automatismus, einem Reflex gleich. So erklärt es der Verteidiger Pieter Sponholz. Aber ein Gutachten hat ergeben, dass der Mann zu sehen gewesen sein muss. „Vielleicht hat er drei, vier Sekunden zu früh hineingeschaut“, sagt Sponholz. Die Diskussion ist müßig. „Dass Sie ihn übersehen haben, ergibt sich daraus, dass Sie ihn überfahren haben“, sagt Vieweg zum Angeklagten, auch wenn „das jedem hätte passieren können“.

Der 46-Jährige will nie mehr einen Lastwagen fahren

Zwei Wochen lang war der 46-Jährige in einer psychiatrischen Klinik. Danach ging er zu seinem Chef, sagte ihm, er werde nie mehr einen Lastwagen fahren. Dann kündigte er. „Ich konnte auch die Firma nicht mehr sehen“, sagt der Angeklagte. Der Anblick jedes Rentners treffe ihn bis heute „wie ein Schlag in die Magengrube“. Er suchte sich einen anderen Job in einer anderen Stadt, nicht an seinem Wohnort Calw. Er arbeitet in einem Lager. Im Vergleich zu seinem Verdienst als Fahrer verzichtet er auf mehr als 500 Euro monatlich. „Eigentlich müsste man ihn nicht mehr bestrafen“, sagt Sponholz, „er hat sich selbst schon genug bestraft.“ Im Strafregister des 46-Jährigen ist kein Eintrag zu finden. Die Staatsanwaltschaft hat nach Hinweisen darauf gesucht, dass der Berufsfahrer es mit den Verkehrsregeln nicht allzu genau nehme. Sie fand nicht einmal einen Strafzettel.

Vieweg bekennt trotz allem, er habe ursprünglich eine Gefängnisstrafe verhängen wollen – wenn auch mit hoher Wahrscheinlichkeit eine zur Bewährung. Einen Todesfall mit Geld zu sühnen, halte er grundsätzlich für unangemessen, auch wenn am Unfallort „kein Zebrastreifen erkennbar ist und man nicht damit rechnen muss, dass an der Einmündung ein Fußgänger kommt“ – zwischen zwei Lastwagen hindurch. Es war schließlich die Staatsanwaltschaft, die den Richter überzeugt hatte, es in diesem Fall bei einer Geldstrafe zu belassen.