Das Samariterstift Höfingen setzt mit dem Kinästhetik-Konzept auf die Lehre der richtigen Bewegung. Das kommt den Patienten wie den Pflegefachkräften zugute.

Ich habe gemerkt, dass ich viel weniger Schmerzen an meiner Bandscheibe habe, seit ich Kinästhetik anwende“, sagt Marco Braun, der Praxisanleiter und Ratgeber im Samariterstift Höfingen. Seit knapp zwei Jahren wird im Haus mittlerweile nach den Gesichtspunkten der „gesunden Bewegung“ gearbeitet.

 

Menschen, die seit geraumer Zeit in ihrer Mobilität eingeschränkt waren, konnte das Pflegepersonal mit dieser Methode in einigen Fällen wieder in Bewegung bringen. Kinästhetik beinhaltet das gemeinsame Lernen und Entwickeln von Bewegungsabläufen, die auf die individuellen Fähigkeiten der Pflegeperson abgestimmt sind. Dadurch werden die Bewegungen sowohl für die Pflegefachkraft als auch für den Patienten leichter und angenehmer.

Bewegungsabläufe hinterfragen

„Ich arbeite seit fast zwei Jahrzehnten in der Pflege. Bevor ich Kinästhetik gelernt habe, habe ich meine Bewegungsabläufe kaum hinterfragt“, sagt Sonja Oehm aus dem Pflegeteam. Nach einem Basiskurs in Kinästhetik hat sie ihre Fachkenntnisse vertieft – ebenso wie Marco Braun. Nun geben beide ihr Wissen an ihre Kolleginnen und Kollegen weiter. Ihre Überzeugung: „Auch Menschen im Alter und mit Demenz können noch viel von ihrer Selbstständigkeit behalten, wenn alle gemeinsam, jeder auf seine Weise, herauskitzelt oder reaktiviert, was bei den Bewohnerinnen und Bewohnern noch an vertrauten Bewegungsmustern vorhanden ist.“

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Das genau ist bei Erwin Pigisch passiert. Der 83-jährige kam nach einem längeren Krankenhausaufenthalt direkt von der Klinik ins Haus. Seine Knie wollten ihn nicht mehr tragen. Deshalb saß er im Rollstuhl oder lag in seinem Bett. „Ich musste mit einem Hebeteil aus dem Bett gehoben werden“, erinnert sich der Senior. „Das habe ich mir angeguckt und gedacht: Wenn das jetzt mein Leben ist, dann will ich nicht mehr.“ Wenn es um eine positive Entwicklung gehe, dann sei der Einzelne der beste Motivator, sagt Marco Braun.

Viel Übung ist nötig

Doch, dass Erwin Pigisch wieder aufrecht gehen wollte, hat nicht gereicht. „Sie ist schuld“, sagt der Senior, der Sonja Oehm dankbar ist. „Sie hat mit mir geübt und geübt und mich aufgemuntert, wenn es mal nicht so geklappt hat.“ Die Pflegefachkraft hat den 83-Jährigen genau beobachtet und gesehen, welche Bewegungen ihm noch gut gelingen. Aus vielen einzelnen Beobachtungen hat sich in Zusammenarbeit die „Pigisch-Methode“ für das Aufstehen aus dem Bett entwickelt. Im Herbst kam der Bettlägerige aus der Klinik. An Weihnachten ging er stolz und sicher an einem Rollator in den Speisesaal.

„Kinästhetik im täglichen Alltag anzuwenden, braucht nicht mehr Zeit als andere Bewegungsabläufe“, sagt Sonja Oehm. Sie sei überrascht, wie mit wenigen Handgriffen so viel erreicht werden könne. Genau Hinsehen und Aufnehmen seien wesentlich, um kinästhetisch zu arbeiten. Diese Achtsamkeit entwickeln die Praktiker am besten, wenn sie zunächst sich selbst sehr genau beobachten und ihre eigenen Bewegungen wahrnehmen.

Auch Pflegende profitieren

„Ich habe vor Kinästhetik meinen Rücken erst gespürt, wenn er wehgetan hat“, sagt Marco Braun. „Jetzt spüre ich schon in der Bewegung, was mir nicht guttut und korrigiere meine Haltung.“ Erst wenn der ganz individuelle Kraftzustand und die Bewegungsfähigkeit feststeht, werde ein Bewegungsablauf festgelegt, der beiden entspricht. „Das ist ein toller Ansatz“, freut sich Sonja Oehm. „Er ermöglicht mehr Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein, und wir Pflegekräfte werden weniger gebraucht.“

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Das Kinästhetik-Projekt fand zunächst in sechs Modell-Häusern der Samariterstiftung statt. Das in Höfingen gehört dazu. Die Hochschule Esslingen und die Fachhochschule Ostschweiz begleiten das Projekt wissenschaftlich. Die AOK Baden-Württemberg, die BGW-Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, das Deutsche Hilfswerk und das Diakonische Werk Württemberg sind Kooperationspartner und Förderer. Für weitere acht Häuser der Samariterstiftung steht fest: Sie werden möglichst schnell das Konzept einführen.

Die richtige Bewegung

Kinästhetik
 Kinästhetik wurde von Lenny Maietta und Frank Hatch begründet. Der Name ist die deutsche Form des englischen Begriffs Kinaesthetics, der sich aus den Wörtern kinetic (den Bewegungssinn betreffend) und aestetic (durch die Sinne wahrgenommen) zusammensetzt.

Schmerz
  Kinästhetik ist durch Erkenntnisse der Verhaltenskybernetik und der Psychologie beeinflusst. Eine Bewegung, wie etwa aus dem Bett aufzustehen, kann bisher Hunderte Male gleich abgelaufen sein, aber unter kinästhetischen Gesichtspunkten wird nun darauf geachtete, welche der handelnden Personen bei der Bewegung wie belastet wird. Es geht darum zu wissen, welche Bewegung schmerzhaft ist.