Selbst wer mit Johannes Keplers Leben vertraut ist, weiß meist nicht: Der große Astronom war auch Poet. Jetzt sind seine Gedichte publiziert.

Leonberg - Nun hat also auch der zweite berühmte Leonberger seinen Gedichtband. Nach dem Buch „Durchs Herz der Erde“ (1998) mit den Gedichten F.J.W. Schellings, liegt seit Ende 2018 ein gewichtiger Band von 526 Seiten vor. Er enthält das poetische Werk des Astronomen, Mathematikers, Physikers und Kalenderwissenschaftlers Johannes Kepler (1571-1630), übersetzt, kommentiert und herausgegeben von den beiden Philologen Friedrich Seck und Monika Balzert, mitfinanziert von der Kepler-Gesellschaft Weil der Stadt.

 

Selbst wer mit Keplers Leben vertraut ist, kennt meist nur wenig die anderen Seiten dieses großen Wissenschaftlers. Das sind neben der Theologie (Kepler wollte eigentlich Pfarrer werden) und der Astrologie (Kepler strebte ihre grundlegende Reform und Versachlichung an) auch die Poesie. Das erscheint nur auf den ersten Blick verwunderlich. Schon als Schüler in den Klosterschulen Adelberg und Maulbronn und erst recht im propädeutischen Grundstudium der Artes Liberales an der Universität Tübingen wurde er täglich darauf trainiert, Latein fließend zu schreiben und zu sprechen. Dies war unabdingbare Voraussetzung für das eigentliche Studium von Theologie, Jura oder Medizin und für eine wissenschaftliche Karriere.

Dabei spielte die gründliche Kenntnis der römischen und griechischen klassischen Dichter und Schriftsteller eine große Rolle. Vergil, Cicero, Demosthenes standen schon auf Keplers Stundenplan in Maulbronn. Ein Universitätsabsolvent damaliger Zeit kannte die griechisch-lateinischen Versmaße und war in der Lage, die Stilformen der Klassiker anzuwenden und griechische und vor allem lateinische Gedichte zu beliebigen Zwecken zu verfassen.

Gebrauchsgedichte waren für Hochzeiten, Trauerreden, Verabschiedungen

So entstand nach der Rückbesinnung des Humanismus auf Bildung und Wissenschaft der klassischen Antike in der Renaissance eine umfangreiche neulateinische Literatur, deren größerer Teil natürlich Gebrauchsgedichte waren für Hochzeiten, Trauerreden, Verabschiedungen, Promotionen, aber auch viele qualitätvolle Widmungsgedichte und Gedichte über Themen, mit denen man sich ohnehin beruflich oder wissenschaftlich beschäftigte. Gerade dies ist auch typisch für Kepler.

Von Kepler kennen wir bis heute 88 Gedichte mit 2133 Versen. Es muss aber noch mehr geben. Wir wissen zum Beispiel von einer Belohnung Herzog Friedrichs I. von Württemberg (1557-1608) an Kepler für einige Gedichte, die bis heute nicht wiedergefunden worden sind.

Keplers Gedichte sind größtenteils in Latein verfasst, wenige auch in Griechisch oder Deutsch. Sie zeichnen sich oftmals durch Ironie und Witz, Allegorien, Anspielungen und Versteckspiele aus und lassen auch Keplers Humor deutlich werden. Kepler ist kreativ, findet neue Wortschöpfungen, imitiert und zitiert antike Autoren, wählt ungewöhnliche Versmaße, Gattungen und Stoffe.

Schon als Schüler hat er große Freude daran, wie er in seiner Selbstcharakteristik 1597 in Graz bekennt, aber auch Talent. So ist über die Jahre ein Fundus entstanden, den zu betrachten nicht nur aus historischem Interesse lohnt. Die besten Gedichte haben auch literarischen Rang, zum Beispiel seine eigene Grabinschrift:

Mensus eram coelos,

nunc terrae metior umbras.

Mens coelestis erat,corporis umbra iacet.

Die Himmel hab ich gemessen,jetzt mess ich die Schatten der Erde.

Himmelwärts strebte der Geist,des Körpers Schatten ruht hier.

Ungewöhnliche Wortwahl und Satzstellungen, dichterische Freiheiten in Abweichung von der korrekten Grammatik, Auslassungen und zuerst natürlich die Hürde des Latein erschweren uns heute jedoch den Zugang. Es ist das Verdienst der Autoren Friedrich Seck und Monika Balzert, die bisher in der letzten Werkausgabe Keplers (1937-2009, Bayerische Akademie der Wissenschaften), andernorts oder auch noch gar nicht veröffentlichte Gedichte zusammengetragen zu haben. Neben dem Original steht in dem jetzt veröffentlichten Buch eine freie deutsche Übersetzung im gleichen Versmaß, um dem Leser auch einen Eindruck der poetischen Anmutung zu geben. So verdienstvoll das ist, wünscht man sich aber oft auch eine wortgetreue Übersetzung entlang der grammatischen Struktur, um dem Keplerschen Gedanken im Vergleich mit dem Original leichter folgen zu können.

An manchen Stellen gibt es dazu zwar Hinweise in den Anmerkungen, aber der Konflikt zwischen Texttreue und Nachdichtung bleibt grundsätzlich bestehen. Es gibt eben keine optimale Übersetzung von Poesie.

„Blick hinter die Kulissen“ von Keplers Lebensumstände

Die Anmerkungen und Kommentare und eine kurze Biografie Keplers bilden mit etwas mehr als der Hälfte der Seiten einen wesentlichen, wichtigen und wertvollen Teil des Buches. Hier werden zu jedem Gedicht Anlass, Adressaten, Keplers Absichten, persönliche Umstände und sachliche Zusammenhänge, Poetik und Übersetzung, biografische Daten aller Personen, Datierung, Fundstellen und bibliografische Nachweise und nicht zuletzt weiterführende Literatur angegeben. Dies erlaubt einen „Blick hinter die Kulissen“, das heißt Keplers Lebensumstände, Studium, Beruf und Forschungen, Freundschaften, familiäre Verhältnisse und sonstige Beziehungen, die zu seinen Gedichten Anlass gaben. Das macht das Stöbern in dem Band besonders reizvoll.

Buch

Johannes Kepler: Sämtliche Gedichte.
Olms-Verlag, 526 Seiten, 98 Euro.