Unter der Pandemie hat der Komponist Heiner Goebbels weniger gelitten als andere. Manche Aufregung über die Maßnahmen fand Goebbels, der am 17. August 70 Jahre alt wird, billig.

Experimentierfreudig, radikal, vielseitig: Der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels hat sich schon immer als konsequenter Grenzgänger zwischen den Künsten verstanden. Seit vielen Jahren macht Goebbels Musik, er komponiert und inszeniert und bewegt sich an der Schnittstelle von Oper, Theater und Performance. Er hat dafür viele Preise bekommen. Wie arbeitet der Mann, der am 17. August 70 Jahre alt wird? „Ich stehe auf, und wenn ich die Arbeit sehe, lege ich mich gleich wieder aufs Sofa und hoffe auf Eingebung“, sagt Goebbels launig. Zum Glück komme die Eingebung meist rechtzeitig.

 

Geboren wurde Goebbels 1952 im pfälzischen Neustadt/Weinstraße, er lebt seit 50 Jahren in Frankfurt/Main und ab und zu in Berlin - und ist als Künstler weltweit unterwegs. „Man muss abwägen, wohin man reist“, sagt er im Gespräch. Es gehe ihm um ein Verhältnis zum Publikum auf Augenhöhe. „Ich weiß nicht besser, wie man die Welt zu verstehen hat.“ Seine Stücke beruhten nicht auf Bevormundung, sondern auch auf der Freiheit, denken zu dürfen.

Krieg und Frieden

„Deswegen hatte ich in autoritär regierten Ländern den Eindruck, die Stücke würden dort besonders gebraucht. Das waren für mich in den Achtzigern etwa die DDR, Argentinien und Chile und seit Beginn der Neunziger auch Russland. Das ist jetzt, seit der verheerenden Invasion in die Ukraine, vorbei“, sagt er mit bitterem Unterton.

Wegen der Ukraine-Krise hat die Politik eine „Zeitenwende“ ausgerufen. Wird es auch in der Kunst eine Zeit vor und nach dem Krieg geben? „Sicher nicht“, meint Goebbels, der am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen die Georg Büchner-Professur inne hat. „Es sind ja nicht die ersten Kriege, die wir erleben, auch wenn sie näher rücken.“ Zudem gehe es in der Kunst nicht um eine bloße Abbildung. „Sondern eher darum, uns mit etwas zu konfrontieren, das wir noch nicht kennen. Eine Begegnung mit dem uns Fremden. Und das könnte nun eher auch der Frieden sein.“

Die Pandemie als Chance

Goebbels ist ausgebildeter Musiker. Gerne spielt er etwa aus dem „Wohltemperierten Klavier“ von Johann Sebastian Bach. Aber CDs laufen bei ihm selten. „Sie werden lachen, ich höre zu Hause kaum Musik, wenn, dann vorwiegend im Auto. Auch aktuelle experimentelle Popmusik - aber die Songtitel kenne ich seit Prince nicht mehr auswendig.“

Die Pandemie habe er als „seltene und privilegierte Gelegenheit“ erlebt, sich zu konzentrieren. „Neben viel Klavierspielen zu Hause sind zwei Bücher entstanden, ein Hörstück für den SWR, ein Musiktheaterstück mit David Bennent und ein Orchesterzyklus“, schildert er. „Trotz Corona konnte ich Stücke und Konzerte auf die Bühne bringen, meist mit reduziertem Publikum im Schachbrettmuster. Das finde ich sogar ganz angenehm, wenn neben einem ein Platz frei ist.“ Und er habe es zum Klassentreffen geschafft: „50 Jahre Abi“.

Die Last der Freischaffenden

Während bei der Pandemie viele Künstler eine „Respektlosigkeit“ von staatlicher Seite beklagten, für die Kunst nichts „Systemrelevantes“ sei, sieht das Goebbels anders: „Dass man bei einem singulären Ereignis wie der Pandemie auf Privilegien verzichten muss und es bei der Planung auch Fehler gibt, ist naheliegend.“ Die Maßnahmen mussten erst erfunden und erprobt werden. „Sich darüber aufzuregen, fand ich billig. Deswegen bin ich in diesen Chor nicht eingestiegen, der kam mir doch etwas eitel vor. Schwer aber hatten und haben es vor allem die Freischaffenden, und das ja nicht nur während der Pandemie.“

Gefragt, ob es Kunst wohl immer gebe, auch unabhängig vom Menschen, meint er: „Ich kann auch außerhalb von Museen und Konzerthäusern starke ästhetische Erfahrungen machen: im Aufsteigen der Wolken, im Gegenlicht der Sonne, in den Polyrhythmen von Maschinen oder der Zikaden“, sagt der Künstler. „Die werden uns wohl überleben.“