Ein Luftbildvergleich verdeutlicht den massiven Rückgang einer der artenreichsten Lebensräume Mitteleuropas. Besonders gut ist das in Gerlingen zu beobachten, wo sich Wohnsiedlungen immer weiter in die Wiesen hineinfressen, die ein Dorado der Artenvielfalt sind.

Blau- und Kohlmeisen hüpfen von Ast zu Ast, ein Grünspecht stößt seinen markanten Ruf aus, und hoch über der Baumwiese zieht ein Mäusebussard seine Kreise. Markus Rösler sagt: „Streuobstwiesen sind Hotspots der Artenvielfalt“. Mit über 5000 Tier- und Pflanzenarten gehören sie zu den artenreichsten Lebensräumen in Mitteleuropa. Doch obwohl genau das längst bekannt ist, sind die Streuobstbestände in Baden-Württemberg noch immer gefährdete Lebensräume.

 

Die Bebauung frisst sich in die Wiesen

Man könnte den Rückgang der Streuobstbestände anhand des Vergleichs der Luftbilder von 1968 und heute in vielen Regionen im Land belegen. Markus Rösler, Sprecher des Nabu-Bundesfachausschusses Streuobst und Landtagsabgeordneter der Grünen, beschreibt die Entwicklung aber besonders gerne am Beispiel seiner Heimatstadt Gerlingen. Dort ist der 60-jährige Landschaftsökologe nicht nur aufgewachsen. In den 1980er-Jahren hat er dort auch eine umfangreiche wissenschaftliche Untersuchung zum Thema Streuobstwiesen verantwortet.

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„Wir wohnten in der Brennerstraße, und die Streuobstwiesen reichten bis zu unserem Haus“, erinnert sich Rösler. Fesenwengert nennt sich das Gebiet am Südostrand von Gerlingen, das in den 1970er-Jahren bebaut wurde. Der Luftbildvergleich von 1968 und heute verdeutlicht eindrücklich, wie sich die Wohnbebauung immer weiter in die Obstwiesen des heutigen Landschaftsschutzgebiets gefressen hat.

Schutz der Bestände kein großes Thema in der Kommunalpolitik

Röslers Untersuchung hatte ergeben, dass allein in Gerlingen die Streuobstfläche von knapp 215 Hektar 1937 auf 154 Hektar 1986 zurückgegangen war, um satte 30 Prozent. Dazwischen, 1970, lag der Wert bei 173 Hektar. Da gleichzeitig auch ein Teil der Fläche durch intensive Gartennutzung ihren Streuobst-Charakter verloren hatte, waren 1986 faktisch sogar nur noch rund 50 Prozent der ehemaligen Streuobstbestände verblieben. Gegen die Unterschutzstellung des Gebiets hatte sich zuvor die Kommunalpolitik in Gerlingen energisch zur Wehr gesetzt. Erst mit der Ausweisung des Areals als Landschaftsschutzgebiet 1988 war der weiteren Bebauung ein Riegel vorgeschoben.

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Ein Fall, der typisch für die Entwicklung der Streuobstbestände in Baden-Württemberg ist: Gab es 1965 noch rund 18 Millionen Streuobstbäume im Land, waren es nach der letzten Erhebung der Universität Hohenheim im Jahr 2020 gerade noch 7,1 Millionen Bäume. Trotz verschärfter Gesetze ist dieser Trend bis heute nicht gestoppt: „Nach meiner Einschätzung sind derzeit in mehr als 300 Flächennutzungsplänen in Baden-Württemberg Streuobstwiesen perspektivisch zur Bebauung vorgesehen“, sagt Rösler. „In über 50 Fällen wollen Gemeinden aktuell ganz konkret in Streuobstwiesen bauen.“ Eigentlich sollte derartiges durch das 2020 unter der grün-schwarzen Landesregierung verabschiedete Biodiversitätsstärkungsgesetz verhindert werden.

Naturschützer: Die Erhaltungspflicht wird oft unterwandert

Seitdem besteht eine Erhaltungspflicht für Streuobstbestände ab 1500 Quadratmetern. „Die Umwandlung bedarf einer Genehmigung durch die untere Naturschutzbehörde und ist ausgleichspflichtig“, erklärt das Agrarministerium. Doch genau diese Genehmigungen werden unter Rückgriff auf eine im Gesetz vorgesehene Abwägung zwischen Naturschutz und öffentlichem Interesse offenbar nur allzu gerne erteilt. „Im Augenblick haben wir die Situation, dass nur in zwei solcher Fälle die Untere Naturschutzbehörde den Naturschutz ernst genommen hat“, sagt der Landtagsabgeordnete Rösler. Er sieht hier die Landkreise in der Pflicht.

Die Bäume sind oft nicht hoch genug

Gründe für den Rückgang der Streuobstbestände sind neben dem Siedlungsbau, der geringen wirtschaftlichen Rentabilität der Wiesen, der intensiven Nutzung als Gärten auch die teils aufwendige Pflege der Bäume. Doch Rösler hält einen weiteren Missstand für dringend korrekturbedürftig: Denn die für die Artenvielfalt so bedeutenden hochstämmigen Obstbäume seien vor allem in Süddeutschland nicht immer so hoch wie sie eigentlich sein müssten.

Rösler: Mindesthöhen aus Profitgründen oft unterschritten

„Für die Zukunft der Streuobstwiesen wird es sehr wichtig sein, dass neu gesetzte Bäume wirklich eine Stammhöhe bis zum Astansatz von mindestens 1,80 Meter haben“, sagt Rösler. Leider würde Baumschulen beim Verkauf ihrer angeblich hochstämmigen Bäume aus Profitgründen diese Mindesthöhen häufig unterschreiten.

Nicht nur den Bauern ermöglicht erst dieser freie Luftraum unter den Ästen die rentable Bewirtschaftung der Wiese mit Maschinen. Durch zu niedrige Stämme sei auch die Artenvielfalt erheblich eingeschränkt, sagt Markus Rösler: „Der Specht gräbt seine Bruthöhle erst ab etwa dieser Höhe in die Stämme.“

Fehlen aber die Spechthöhlen, hätten auch potenzielle Nachfolger wie Wendehals, Gartenrotschwanz, Wildbienen oder die Bechsteinfledermaus das Nachsehen. „Eine ganze Latte an Arten fehlt, wenn die Bäume nicht hoch genug sind“, sagt der Landschaftsökologe.

Luftbilder-Serie „Bw von oben“

Wandel der Zeit
 Wie hat sich der Altkreis Leonberg seit 1968 verändert? Die Serie „BW von oben“ stellt nicht nur die Luftbilder von damals und heute dar, sondern auch die Geschichten, die diese Bilder erzählen. Dafür kooperiert unsere Zeitung mit dem Landesamt für Geoinformation und Landentwicklung sowie dem Landesarchiv.

Alle Beiträge der Serie
und die Landkarten ganz Baden-Württembergs von 1968 und heute werden unter www.stuttgarter-zeitung.de/bw-von-oben gesammelt.