Dass Keplers Mutter Katharina als Hexe angeklagt war, wissen viele. Jetzt hat die Cambridger Historikerin Ulinka Rublack die erste wissenschaftliche Untersuchung vorgelegt. Warum erst jetzt? Das weiß der Weil der Städter Lokalhistoriker Wolfgang Schütz.

Weil der Stadt - In allen großen Zeitungen in England und Deutschland ist Ulinka Rublacks Buch „Der Astronom und die Hexe“ über Katharina Kepler auf große Resonanz gestoßen. Am Freitag nun kommt die Autorin nach Leonberg und stellt das Werk vor. Vorher fragen wir nochmals beim Weil der Städter Kepler-Kenner und Lokalhistoriker Wolfgang Schütz nach, ob sich die Lektüre lohnt. Und warum hat den Stoff bisher eigentlich noch niemand aufgegriffen?

 

Herr Schütz, das Buch von Ulinka Rublack stand im Dezember auf Platz 4 der Sachbuch-Bestenliste von Zeit, Deutschlandfunk-Kultur und dem ZDF. Hat Sie das gewundert?

Als mich vor vier Jahren eine Anfrage der Autorin zur Hexenverfolgung in Weil der Stadt erreicht hat, war ich von ihrem Buchprojekt doch etwas überrascht. Denn ich dachte, das Thema Hexenprozess gegen Katharina Kepler sei nach der wissenschaftlichen Studie des Grazer Historikers Berthold Sutter von 1979 eigentlich ausgeschöpft. Außerdem war ja 2004 während des Bärlauch-Hypes für die heilkräuterhungrigen Leserinnen auch noch Katja Doubeks Roman über Katharina Kepler erschienen.

Und jetzt die Studie von Rublack. In allen großen Zeitungen wurde das Buch besprochen, zum Teil überschlagen sich die Rezensenten in ihrem Lob. Ist das gerechtfertigt?

Ich glaube, der Professorin Ulinka Rublack ist die bislang fundierteste wissenschaftliche Monografie zu diesem Thema gelungen. Sie analysiert nicht nur brillant den schockierenden Hexenprozess, sondern stellt das Einzelschicksal Katharina Keplers und ihrer Familie in den kulturellen Zusammenhang der Gesellschaft ihrer Zeit. Da sie sich nicht hinter borniertem Fachjargon oder esoterischem Geraune verschanzt, wird man von ihrer fesselnden Darstellung im allerbesten Sinne informiert, inspiriert und unterhalten. Ihr berühmter Cambridger Kollege Nicholas Jardine hat es auf den Punkt gebracht: „A masterwork“ – ein Meisterwerk.

Wolfgang Schütz. Foto: factum/Archiv
Wie viel ist denn schon über diese Katharina Kepler, geborene Guldenmann, aus Eltingen geforscht worden? Hat Ulinka Rublack mit ihrem Buch völliges Neuland betreten ?

Nicht für uns hier in den Heimatgefilden von Mutter und Sohn Kepler. Jedoch gewiss für ihre erste Zielgruppe: das englische Lesepublikum. Sie wollte das negative Image der Keplerin korrigieren, das bislang in der englischsprachigen Kepler-Literatur vorherrschte. Insofern ist das Buch auch ein Argument gegen den Brexit.

Fanden Sie einen Aspekt dieser Darstellung besonders bemerkenswert?

Zum Beispiel, dass die Autorin die Umbruchsepoche um 1600 nicht auf Teufelsangst und Massenwahn reduziert, sondern das optimistische Menschenbild des Naturphilosophen Kepler dagegenstellt. Das demonstriert Frau Rublack an Gestalten wie der arzneikundigen Herzogin Sibylla von Anhalt, die ja ihren Lebensabend im Leonberger Schloss verbracht hat, oder an den genialen Keplerfreunden Wilhelm Schickard und Christoph Besold.

Wie erklären Sie sich das anhaltende Interesse an Keplers Mutter?

Es begann schon vor fast 200 Jahren. Damals wurden Keplers Briefe an den Herzog zur Verteidigung seiner Mutter und vor allem die Prozessakten entdeckt, die dann Freiherr von Breitschwert 1828 in der ersten umfangreicheren Kepler-Biografie auswertete. Dadurch wurde erstmals bei einem breiteren Laienpublikum das Interesse an Kepler geweckt.

Inwiefern?

Der Wissenschaftler Johannes Kepler, den bis dahin nur die Fachgelehrten kannten und verstanden, bekam plötzlich eine private, menschliche Dimension. Man bewunderte das vorbildliche Verhalten des Sohnes, der seine Studien unterbricht, um das Leben seiner alten Mutter zu retten. Und man badete sich in dem Wohlgefühl, wie schön bei uns seit jenen finsteren Zeiten Aufklärung und Humanität gediehen waren. Es war aber auch die Faszination, die von der schaurig-schönen schwarzen Romantik des Hexen-Themas ausging, die bis zur heutigen Hochkonjunktur karnevalesker Hexenzünfte reicht.

Die alten Akten des Prozesses

Weshalb war der Hexenprozess erst so spät wiederentdeckt worden ?

Kepler hatte es tunlichst vermieden, andere in die Hexen-Affäre einzuweihen. Aus Furcht, dass es ihm bei seinen „Arbeitgebern”, dem Kaiser und den Ständen in Linz, schaden könnte, und um seine Familienehre zu retten. Es ist nur ein einziger Brief erhalten, in dem er einem Freund Andeutungen machte – drei Jahre nach Prozessende. Auch 1718, in der ersten Kurzbiografie von Michael Hansch, ist nicht von Hexerei, sondern ganz vage von Giftmischerei die Rede.

Lehnte Kepler eigentlich den Hexenglauben ab?

Er lehnte die Justizwillkür und die Hinrichtungen ab. Aber die Existenz des Teufels und folglich auch die von Hexen war allgemeiner Konsens, unabhängig von der Konfession. Kepler machte da keine Ausnahme. Aber er bestritt, dass diese Mächte sein oder seiner Mutter Denken und Handeln beeinflussen könnten.

Wann wurde sie zur literarischen Figur?

Während die Historiker damit beschäftigt waren, Keplers wissenschaftliches Lebenswerk zu erforschen, bemächtigte sich schon früh die Belletristik des Stoffs. Die erste dichterische Arbeit 1857 war die Kepler-Novelle der Unterhaltungsschriftstellerin Julie Pfannenschmidt. Sie gestaltete die Geschichte sehr frei und spaltete die Figur in zwei Personen auf: die problematische leibliche Mutter Katharina, und deren Jugendfreundin Apollonia Wellinger, die sie zur treuen Pflegemutter Keplers veredelte, welche trotz Folter Katharina nicht als Hexe denunziert. Auch in neuerer Zeit waren es häufig Frauen, die das Schicksal der Keplerin zum Thema historischer Romane machten, zum Beispiel 1957 Rosemarie Schuder aus Jena oder 1980 Utta Keppler aus Tübingen. Den erfolgreichsten Keplerroman schrieb 1981 der renommierte irische Autor John Banville, bei dem Katharina fast zur Karikatur geriet.

Das Grundrecht der Kunstfreiheit erlaubt es eben, historisches Material frei zu gestalten.

Kein Zweifel. Auch Schiller ließ Jeanne d’Arc auf dem Schlachtfeld, nicht auf dem Scheiterhaufen sterben. Nur ist eine der Risiken historischer Romane, dass die Leser Gefahr laufen, fiktive und faktische Realität nicht mehr auseinanderzuhalten. Dazu kommt, dass die seriöse Quellenforschung zur Hexenverfolgung bei uns erst nach 1972 begann. Da hatten Verschwörungsfabulierer schon Unfug genug verbreitet. Gerade deshalb sind Bücher wie das von Ulinka Rublack als Antiserum so wichtig.

Wie behandelten die bekannten Keplerforscher eigentlich die Mutter?

Man hat den Eindruck, dass es manchem fast etwas peinlich war, dass in Keplers makelloser Welt der Zahlen und Figuren auch noch die bucklige Verwandtschaft auftauchte. Sogar der große Biograf und Editor Max Caspar billigte in dem von ihm als „Weihestätte“ konzipierten Weiler Museum der unappetitlichen Hexen-Story nicht all zuviel Raum zu und verbannte den Text der Prozessakten aus der Werkausgabe. Deren letzter Herausgeber, Volker Bialas, widmete der Keplerin in seiner 200-seitigen Kepler-Monografie von 2004 gerade einmal eine halbe Seite. Selbst auf den üppigen 1207 Seiten der neuen Biografie „Keplers Welten“ von Arnulf Zitelmann von 2016 kommt die Keplerin zu kurz.

Wurde Frau Rublack damals mit ihrer Anfrage bei Ihnen in Weil der Stadt fündig?

Im Prozess wurde Katharina vorgeworfen, eine Verwandte in Weil habe ihr das Hexenhandwerk beigebracht und sei selbst als Hexe verbrannt worden. Das waren aber Fake-News der Klägerpartei. Daher fanden sich hier im Archiv auch keine Belege. Übrigens wurde der Prozess in Literatur und Presse öfters sogar nach Weil der Stadt verlegt. Zum Beispiel 1929 in dem Drama „Keplers Mutter“ von Max Diez. Wir Weil der Städter überlassen aber dieses Alleinstellungsmerkmal gerne den Leonbergern, da unsere Geschichte mit rund 40 brennenden Scheiterhaufen schon belastet genug ist. In Weil der Stadt hätte Katharina wohl nicht überlebt.