Schüler lernen die vielen Facetten von Fluchtgeschichten kennen.

LEonberg - Mit 18 Jahren hatte er sich entschlossen, seinem Land den Rücken zu kehren. Bei der Armee zu arbeiten, wie ihm angetragen wurde, kam nicht in Frage. Schon allein, weil er mit der politischen Doktrin der Machthaber nichts am Hut hatte. Zudem rechnete sich der junge Mann als gelernter Fernmeldemonteur gute Chancen aus, rasch wieder Arbeit zu finden, wenn er erst einmal die noch nicht ganz so gut gesicherte Grenze überwunden haben würde. Karl-Heinz Utess wartete also ab, bis er einen offiziellen Reiseauftrag seiner Arbeitsstelle erhielt, um ein Seminar in Königs Wusterhausen südlich von Berlin zu besuchen, löste dann in Rostock eine Bahnfahrkarte über „Berlin-Stadtbahn“ – und verließ die S-Bahn klammheimlich im amerikanischen Sektor der geteilten Stadt. Geschafft! Freiheit! Karl-Heinz Utess war im Westen.

 

1960 war das Jahr, in dem diese Fluchtgeschichte spielt. Und Utess ein Flüchtling, der die DDR rechtzeitig verlassen hatte, bevor kurze Zeit später das kommunistische Regime die Mauer errichtete. 24 Schüler und Schülerinnen der 10. Klasse der Ostertag Realschule Leonberg verfolgten am Dienstag im Stadtmuseum mit gespannter Aufmerksamkeit, was der heute 77-Jährige über seine Flucht aus der Deutschen Demokratischen Republik zu erzählen hatte. Flucht – ein Thema, das die Schüler derzeit im Rahmen des Unterrichtsinhalts „Bevölkerungsentwicklung“ im Gemeinschaftskundeunterricht verhandeln – hat viele Gesichter.

Augenblicke. Begegnungen. Geschichten.

Das ist vermutlich das Erste, was die Jugendlichen zwischen 15 und 16 Jahren an diesem Tag im Stadtmuseum erfahren. Die noch bis 27. Oktober während der Interkulturellen Wochen Leonberg dort gezeigte Wanderausstellung „An(ge)kommen. Augenblicke. Begegnungen. Geschichten“ des Forums der Kulturen Stuttgart gibt Flüchtlingen aus der ganzen Welt eine Stimme: solchen aus Syrien, aus Sri Lanka, aus dem Sudan, aber eben auch Vertriebenen aus Schlesien oder Flüchtlingen aus der ehemaligen DDR. Für die Schüler eine spannende Erfahrung, denn in ihrem Alltag, mitunter sogar in ihren eigenen Schulklassen, sind die Jugendlichen natürlich vor allem konfrontiert mit aktuellen Fluchtbiografien.

Die Jugendlichen hatten dann auch viele Fragen an Karl-Heinz Utess, die sie zum Teil schon im Unterricht vorbereitet hatten: Hat Ihre Familie von ihrem Fluchtplan gewusst? War es schwer, in Stuttgart ein neues Leben anzufangen? Welche Schwierigkeiten gab es auf der Flucht? Wie bereiteten Sie sich vor? Denken Sie oft über die Vergangenheit nach? „Wichtig war“, erzählt der heute in Fellbach lebende Utess, „dass niemand von meinen Fluchtplänen wissen durfte, auch die Eltern nicht.“ Jeder, sagt der 77-Jährige, der von den Plänen erfahren hätte, wäre verpflichtet gewesen, ihn zu verraten. „Man riskierte Gefängnis, wenn man Fluchtpläne, von denen man Kenntnis bekam, nicht verriet“, berichtet der Pensionär, der bald nach seiner Ankunft im Westen beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart eine Anstellung fand.

Lebhafte Diskussion

Als die Jugendlichen die Gelegenheit bekommen, im Anschluss an ihre schon vorab eingereichten Fragen, noch mal nachzufassen, beginnt eine lebhafte Diskussion: Die Vorstellung, dass Utess seine Familie ohne deren Wissen verlassen musste, scheint die Jungen und Mädchen besonders umzutreiben: „Wie hat ihre Mutter reagiert, als sie merkte, dass Sie im Westen sind?“, fragt eine Schülerin. Eine nicht unterschriebene Postkarte aus Frankfurt am Main war das erste Lebenszeichen, das Utess nach Hause schickte. Die Mutter erkannte den Absender nur an der Handschrift. „Sie war sehr erschrocken“, erinnert sich der ehemalige DDR-Flüchtling. Und Angst? „Hatten Sie Angst, als Sie die Flucht unternahmen?“, will ein anderes Mädchen wissen. Utess überlegt kurz: „Angst“, sagt er dann, „ist ein schlechter Ratgeber.“ Ob er sie dennoch verspürt hat, verrät er nicht.

Die Fluchtgeschichte von Karl-Heinz Utess, auch das erfahren die Schüler an diesem Tag, ist eine, die gut ausging, was beileibe nicht bei allen der Fall ist: Die Familie des Geflüchteten wurde in der DDR nicht belangt. Allzu glaubhaft war, dass sie von nichts gewusst hatte. Utess selbst integrierte sich rasch in die westdeutsche Gesellschaft – und schließlich kam dann ja auch noch die Wende.

Ganz lockerer Umgang

Bemerkenswert: Mit dem Thema Flucht und Vertreibung gehen die Jugendlichen ganz unbefangen um. Undine Thiel vom Integrationsbüro der Stadt Leonberg bestätigt das: „Je jünger die Schüler sind, umso normaler ist ihr Umgang mit Flüchtlingen.“ Dazu trägt mit Sicherheit bei, dass viele inzwischen selbst mit Flüchtlingen in ihrem privaten oder schulischen Umfeld Kontakt haben. Wie facettenreich das Thema tatsächlich ist, das konnten die Jugendlichen nun erfahren.

Umfrage

Daniel Kienle Foto: Schöll
Der 15-jährige Daniel Kienle hat sich viele Gedanken zum Thema Flucht und Vertreibung gemacht und findet es schlimm, wenn Flüchtlinge aufgrund von Krieg oder Hunger ihr Heimatland zwangsweise verlassen mussten und dadurch zum Beispiel auch ihre Familien verlieren. „Deshalb sollte ein Land, das die Möglichkeit hat, solche Menschen aufzunehmen, das auch mit allen seinen Kräften versuchen.“ Es sei wichtig, so der Jugendliche, dass die Flüchtlinge hier Anschluss an die Gesellschaft finden und die Chance, eine Arbeit aufzunehmen, um selbst ihr Geld zu verdienen.

Leo Mörk Foto: Schöll
Lea Mörk hat kein Verständnis dafür, dass viele Länder nicht bereit sind Menschen aufzunehmen, die aus ihren Heimatländern fliehen müssen. „Es ist schlimm, dass so viele Leute Hass gegenüber den Flüchtlingen empfinden“, sagt die 15-Jährige. Sie könne es nicht verstehen, wenn Leute gewalttätig gegen Menschen werden, die keine andere Wahl haben, als aus ihren Heimatländern zu fliehen. „Ich könnte mir vorstellen, selbst jemanden aufzunehmen, aber in jedem Fall mit Flüchtlingen ins Gespräch zu kommen. Es ist krass, wenn man seine Heimat verlassen muss.“

Manuel Lai Foto: Schöll
„Ich würde nicht gerne aus meiner Heimat fortgerissen werden“, sagt Manuel Lai, der auch in die 10. Klasse der Ostertag Realschule geht. „Es ist schade, dass es Menschen gibt, die aus ihrem Land flüchten müssen.“ Trotzdem unterscheidet der 15-Jährige zwischen Flüchtlingen, die hier in Deutschland zum Beispiel gewalttätig werden, und solchen, die bereit sind, sich zu integrieren. „Die meisten sind nett und wollen hier einfach ein gutes Leben führen.“ Er selbst habe unter seinen Freunden einige Flüchtlinge. „Die sind korrekt“, sagt er. Es wäre schade, wenn die wieder gehen müssten.