Es ist ein seltener Gendefekt: Der fünfjährige Emil Lieckfeldt hat eine Muskeldystrophie. Seine Muskeln werden immer schwächer.

Leonberg - So viele Treppen. Erschöpft hält sich Emil Lieckfeldt am Geländer fest. Er kann nicht mehr und spürt, dass seine Muskeln immer mehr nachgeben. Doch er möchte nicht aufgeben. Tapfer bezwingt er Stufe um Stufe. Erst nimmt er das rechte Bein und stellt es auf die Stufe, dann folgt das Linke. Schlimm wäre es, wenn er jetzt stürzen würde.

 

Emil Lieckfeldt ist fünf Jahre alt. Seine Eltern kommen ursprünglich aus Stralsund, doch im Jahr 2008 sind sie aus beruflichen Gründen nach Leonberg gezogen. Hier sind Emil und sein kleiner Bruder Erik zur Welt gekommen. Ellen Lieckfeldt, Emils Mutter, ist Krankenschwester für Anästhesie und Intensivmedizin, Sven Lieckfeldt, Emils Vater, ist Informatiker.

„Am Anfang war es sehr schwierig, weil es noch keine Diagnose für Emil gab. Er ist die ganze Zeit hingefallen und wir wussten nicht warum. Außerdem war er viel langsamer als die anderen Kinder. Wir dachten uns immer, das kommt schon, aber der Unterschied wurde immer größer“, erzählt Ellen Lieckfeldt. „Irgendwann hat uns der Kinderarzt zum Neurologen geschickt. Doch dieser meinte, es würde schon nichts sein.“

Die Diagnose kommt 2017

Doch dann kam im Juni 2017 der Anruf, der alles erklären sollte. „Ich konnte mich um alles kümmern und war stark genug, nicht aufzugeben. Doch wenn du diese Kraft nicht hast, bist du alleine gelassen. Du fängst an, die Diagnose zu googeln und siehst Dinge, die du nicht sehen willst“, sagt Emils Mutter.

Emil Lieckfeldt leidet an einer Muskeldystrophie des Typs Duchenne. Die seltene Krankheit wird durch einen Gendefekt hervorgerufen, der angeboren sein kann oder durch eine Spontanmutation entsteht. Sie führt dazu, dass die Muskelfasern sich zurückbilden und die betroffenen Kinder ihre Muskeln nicht regenerieren können. Viele sind irgendwann auf den Rollstuhl angewiesen. „Sowohl die Atemmuskulatur, als auch die Herzmuskulatur sind betroffen. Manche sterben im Kindesalter, können sich nicht mehr bewegen oder müssen künstlich beatmet werden“, sagt Emils Mutter. „Ich kenne zwar auch jemanden, der mit Emils Krankheit 44 Jahre alt geworden ist, doch ich frage mich, ob das so lebenswert ist.“

Da Emils Muskeln sehr schwach sind, ist eine Überbelastung unter allen Umständen zu vermeiden. Deshalb hat Emils Fahrrad auch einen kleinen Motor. Foto: factum/Simon Granville
„Kaum hatten wir die Diagnose, sind wir nach Paris gefahren“, erzählt Ellen Lieckfeldt weiter. „Denn Emil wollte schon immer nach Paris auf den Eifelturm. Diesen Traum wollten wir ihm ermöglichen.“ Seit dem Tag der Diagnose wird bei der Familie nichts mehr auf die lange Bank geschoben. Sobald Emil etwas Bestimmtes machen möchte, wird es so schnell wie möglich umgesetzt. „Man weiß nicht, wie es sich entwickeln wird. Es kann sein, dass Emil mit zwölf Jahren noch laufen kann. Es kann aber auch sein, dass Emil dann nicht mehr da ist“, sagt seine Mutter und schluckt.

Da Emils Muskeln sehr schwach sind, ist eine Überbelastung unter allen Umständen zu vermeiden. Sonst könnte er stürzen und sich sehr weh tun. Er braucht deshalb mehr Unterstützung als andere Kinder in seinem Alter. „Das schränkt uns nicht ein. Wir kennen es nicht anders. Einem Kleinkind hilfst du auch die Treppe hoch. Wir haben damit eben nur nie aufgehört“, sagt Ellen Lieckfeldt lächelnd.

Ein Dreirad mit Motor

Trotz allem ist Emil Lieckfeldt total gerne mit dem Fahrrad unterwegs. Seine Mutter erzählt: „Emil hat ein spezielles dreirädriges Therapierad mit einem Motor. Die drei Räder sind da, damit er nicht umkippt und der Motor setzt ein, sobald er nicht genug Kraft hat. Er wird es nie schaffen, normal zu fahren, aber die Spezialanfertigung ist eine große Hilfe für ihn.“

Um Emil zu helfen, hat die Familie seit Kurzem einen Galileo zuhause stehen. „Das ist eine Vibrationsplatte, auf die Emil sich morgens und abends zwei Minuten stellen muss“, erzählt Ellen Lieckfeldt. „Durch die Vibration werden Emils Muskeln gelockert und das Sekret kann sich lösen.“ Es war gar nicht so einfach, das Hilfsmittel für Emil zu bekommen. Denn die Krankenkasse wollte die Kosten für den Galileo nicht übernehmen. „Wir haben die Platte schließlich durch die „Aktion Kindertraum“ bekommen. Da ist uns wirklich ein Stein vom Herzen gefallen“, sagt Ellen Lieckfeldt.

„Mit dem Galileo bin ich schon viel stärker geworden“, sagt der Fünfjährige. Emil weiß, dass er schwächere Muskeln hat, als andere Kinder. Doch er weiß noch nicht, welche Auswirkungen die Krankheit später hervorrufen könnte. „Es ist noch zu früh, Emil zu sagen, was die Krankheit für ihn bedeutet. Er ist noch zu jung. Doch irgendwann wird der Moment kommen, an dem wir es ihm erklären müssen“, sagt Emils Mutter schweren Herzens.

Der kleine Mann gibt nicht auf

Neben dem Galileo trägt der kleine Junge spezielle orthopädische Schuhe und muss einmal in der Woche zur Physio- und Ergotherapie, um seine Beweglichkeit zu erhalten. Außerdem muss er seit September Kortison einnehmen. „Das Kortison hat natürlich seine Nebenwirkungen. So hat Emil dadurch zum Beispiel stark im Gesicht zugenommen. Aber das Medikament hat auf jeden Fall dazu geführt, dass er mobiler geworden ist und kaum noch hinfällt“, sagt seine Mutter. „Im Moment befindet sich er in einer Plateauphase, in der immer noch alles gut ist. Doch danach geht es schnell bergab. Wir können nur hoffen, dass die Plateauphase möglichst lange anhält.“

Am Wochenende unternimmt die Familie sehr viel und fährt meistens in den Freizeitpark. „Emil liebt den Europapark. Er findet es toll, sich Shows anzugucken und Karussell zu fahren. Mit seinem Behindertenausweis darf er immer gleich fahren und kann einfach an den langen Schlangen vorbeigehen. Das findet er toll“, sagt Emils Mutter lachend. „Wir nennen seinen Behindertenausweis deshalb immer die Zauberkarte.“ Neben den Freizeitparkbesuchen stehen für Emil immer wieder neue Erlebnisse auf dem Programm. Ob eine Flughafenführung, eine Fahrt mit dem Porsche oder eine Reise auf der Aida zum Nordkap – Emils Eltern lassen sich immer wieder etwas Neues einfallen. So erzählt der Junge ganz stolz: „Wenn man fünf Jahre alt ist, darf man alleine fliegen. Und ich habe mich das getraut.“

Er soll sich wehren können

Damit Emil sich unter der Woche nicht langweilt, geht er zum Kids Wing Tsun. Es handelt sich dabei um einen Selbstverteidigungskurs, bei dem er lernt, wie er sich wehren kann. „Wenn etwas passiert, kann Emil nicht wegrennen. Deshalb war es mir wichtig, dass er lernt, wie er sich verteidigen kann“, sagt seine Mutter. Außerdem geht Emil jeden Donnerstag zum Turnen. „Wir werden dabei toll vom Kinder- und Jugendhospizdienst unterstützt“, sagt Ellen Lieckfeldt lächelnd. „Darauf freut Emil sich immer sehr.“

Wenn alles nach Plan läuft, soll Emil im September in die Grundschule kommen. Das gestaltet sich allerdings nicht so einfach, denn kaum eine Schule ist rollstuhlgerecht. „Ich hoffe sehr, dass Emil mit seinen Freunden in die Mörikeschule gehen kann. Aber ich weiß noch nicht, ob es klappt. Denn es gibt ganz viele Treppen, die Toiletten befinden sich im Keller und es gibt keinen Aufzug. Das kann Emil kaum schaffen“, sagt Ellen Lieckfeldt nachdenklich. Trotz allem gibt Emils Mutter nicht auf und füllt einen Stapel an Papieren nach dem anderen aus, um Emil zu ermöglichen, in eine ganz normale Grundschule zu kommen. „Eine Körperbehindertenschule ist für mich keine Option. Emil ist teilweise sogar kognitiv weiter als andere Kinder und sollte nicht als eingeschränkt abgestempelt werden.“

Alles dreht sich um das Kind

Bald geht es für die ganze Familie für drei bis vier Wochen nach Boltenhagen zur Familienrehabilitation. Sie soll die Zeit dafür schaffen, alles was passiert ist psychologisch verarbeiten zu können. „Ich habe fast nie die Zeit, mich mit meinem Mann in Ruhe hinzusetzen und darüber zu reden. Wir machen alles, um Emil alles Mögliche zu zeigen. Dabei bleibt die Zeit einfach auf der Strecke“, sagt Emils Mutter nachdenklich.

Doch kurz darauf erhellt sich ihr Gesicht wieder. „Wir sind den Leuten sehr dankbar, die uns unterstützen. Man merkt, dass viele Dinge nicht selbstverständlich sind und dass man für Vieles kämpfen muss. Wir wissen nicht, was mit Emil passieren wird. Aber wir können versuchen, ihm alles zu ermöglich, was er sich erträumt. Und jedes Mal, wenn ich sein Lächeln sehe, weiß ich, dass wir das Richtige tun.“