Klaus Beer, ehemaliger Richter am Oberlandesgericht, ist jüdischer Herkunft. Er erinnert sich an die Schrecken der Pogromnacht vor 80 Jahren.

Leonberg - Am 9. November vor 80 Jahren war ich in der großen Hansestadt an der Elbe noch zu klein, um die Schrecknisse des Tages in der Stadt und im Reich zu erfahren und zu begreifen. Es war damals meiner mir liebvertrauten Großmutter Elise, geborene Cohen, amtlich „mosaisch“ genannt, in jener schlimmen Nacht ja auch nichts zugestoßen. Auch meine Eltern kamen glimpflich davon.

 

Mit voller Wucht traf es Omas Verwandtschaft in ihrem Heimatstädtchen Osterholz-Scharmbeck weit hinten im Lande, nämlich ihre Vettern und Cousinen mit den Kindern dort und anderswo. Ich aber erfuhr alles erst später. In Großmutters Geburtsort drangen Männer in hellbraunen Uniformen in die Synagoge ein, häuften ihr Inneres auf und zündeten es an. Dann stürmten sie die Wohnungen der Juden, verprügelten die Männer, zerschlugen was sie zu zerschlagen reizte. Großmutters Vetter Siegmund verletzten sie bei schlafender Nachtzeit so schlimm, dass er liegenblieb und sich nicht mehr aufrichten konnte. Sie beschädigten auch schwer den Textilladen von Omas Vetter Alfred und das kleine Lädchen seiner Tochter Hanni. Ähnliches stieß allen anderen Juden des Ortes zu.

Auf dem Judenfriedhof waren alle Grabsteine umgeworfen

Am nächsten Morgen sperrte man die Überfallenen auf Tage in Gerichtsgefängnisse. Großmutters Vetter Siegmund starb nach einiger Zeit mangels ärztlicher Behandlung an den im Pogrom erlittenen Verletzungen. Man vergrub ihn auf dem Judenfriedhof, wo alle Grabsteine umgeworfen waren.

In meiner zweiten Heimatstadt, Ulm an der Donau, kürzte ich meine Wege als Laufbursche schon vor der Bombardierung der Stadt ab über eine eingeebnete Baulücke. Später hörte ich: da stand einmal eine Synagoge. Noch später bauten sie darauf eine große Sparkasse. Endlich einmal brachte man dann daran wenigstens eine Erinnerungstafel an. Ich schaute dabei zu. Die neue Synagoge auf dem großen gegenüberliegenden Platz ähnelt äußerlich einem Bunker, nicht dem zerstörten Prachtbau.

Alle Verwandten der Oma, die in Deutschland blieben, wurden ermordet

Heute lebe ich in meiner dritten Teil-Heimat Leonberg an einem sehr kleinen Flüsschen. Ich selber bin nun alt geworden wie auch die Republik, in der ich lebe. Die Zeitgeschichte drängt stärker und stärker Erinnerungen auf. Auch an den 9. November, „remember, remember“.

Alle Verwandten der Großmutter, die nach dem Pogrom noch in Deutschland blieben, wurden deportiert und getötet. Zum Glück entkamen die beiden Enkelinnen Ellen und Selma von Großmutters Cousine Minna, verheiratete Goldstein. Sie sind meine zwei „Goldsteine“ in der Asche der Familie Cohen. Ich erfreue mich an den Begegnungen mit ihnen. Das versöhnt mich aber nicht mit der missglückten Geschichte des deutschen Volkes. Klaus Beer