Beim „LKZ im Gespräch“ durchleuchten zwei Experten die Gründe für die Not und Bedürftigkeit von Menschen in einer reichen Stadt.

Leonberg - Das dringlichste Problem in Leonberg, das auch der Grund für viele weitere Schwierigkeiten bei den Menschen ist und somit viel sozialen Zündstoff birgt, ist der akute Mangel an bezahlbaren Wohnungen“, sagt Jürgen Rein vom Amt für Jugend, Familie und Schule. „Auch wir merken, dass ein Großteil der Probleme mit Geldknappheit und existenzieller Not zusammenhängen, das wirkt sich auf die Beziehungen aus, auf die Gesundheit, erzeugt Konflikte“, ergänzt Simone Schächterle, die Leiterin des Hauses der Diakonie in Leonberg. Die beiden sind Gäste von „LKZ im Gespräch“ auf dem „Strohländle“ und stehen dem Redaktionsleiter und Moderator Thomas K. Slotwinski Rede und Antwort zum Thema „Armut in der Stadt“.

 

In einer Gegend mit vielen gut bezahlten Arbeitsplätzen hätten die Mieten und Immobilienpreise einen Stand erreicht, der selbst Normalverdienern große Probleme bereite, sagt Rein. Wenn die Hälfte des Einkommens einer Familie fürs Wohnen benötigt werde, sei der Weg in die Armut oft recht kurz, weiß der Leiter der Abteilung Familie und Senioren, in der auch das Wohngeld angesiedelt ist. Wie prekär die Lage ist, zeigen zwei Zahlen: Ende 2017 hatte die Stadt 265 Hauhalte in der Kartei der Berechtigten für eine Sozialwohnung. Am 3. Juni dieses Jahres waren es bereits 381 Haushalte.

Leitfaden durch den Gesetzesdschungel

„Wir geben den Menschen einen Leitfaden an die Hand auf dem Weg durch den Gesetzesdschungel, denn nicht immer haben die Behörden Recht“, erläutert Jürgen Rein, warum die Bürger informiert werden. „Das System ist nicht auf den ersten Blick durchschaubar, die Menschen lernen von uns, wie das Verfahren geht“, bringt Simone Schächterle die zahlreichen Beratungsangebote auf einen Nenner.

„Wieso ist alles so kompliziert?“, will Moderator Slotwinski wissen. „Wir müssen die Formulierungen in den Akten menschlicher machen“, beschreibt Rein einen ersten Schritt. Letztendlich sei aber jedes Papier ein Verwaltungsakt, der gerichtsfest sein müsse. „Weil alle Behörden gerichtsfest sein wollen und es unsere deutsche Art ist, immer ganz perfekt zu sein, entstehen Aktenberge, die viele überfordern.“

Keinen Hehl macht Jürgen Rein daraus, dass er Hartz IV für „den größten Einschnitt in der Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik“ hält, dem Ganzen äußerst kritisch gegenübersteht. „Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit stürzt Ihr Einkommen auf den Regelbedarf von 416 Euro“, gibt er der Zuhörerrunde zu bedenken. „Andererseits bin ich froh, dass es in Deutschland Gesetze gibt, die das regeln – das gehört dazu“, sagt Simone Schächterle. Es sei gut, wenn Menschen nach kurzer Zeit wieder einen Job hätten. Denn welchen sozialen Abstieg Langzeitarbeitslosigkeit mit sich bringe, werde in ihrer täglichen Arbeit im Haus der Diakonie nur zu deutlich. Dort ist neben dem Tafelladen und dem Diakonie-Laden noch eine Tagesstätte für Menschen mit psychischer Erkrankung angegliedert.

Ohne Tagesstruktur kommt oft der Griff zum Alkohol

Doch Jürgen Rein kennt auch die andere Seite. „Viele arrangieren sich damit, ihr Leben mit dem Grundbetrag zu leben, sie gehen aus diesem Leben, die Zeit ist lang, die Tagesstruktur fehlt, die Wohnung geht verloren, zu viel Alkohol kommt hinzu.“ Um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, bedürfe es auch des Willens dazu, sagt Schächterle. „Wir müssen für diese Menschen Strukturen und Kontakte finden, sie an Gruppen und Kreise, an ein soziales Leben andocken und sie nicht auf ihre Krankheit oder ihre Armut reduzieren“, sagt die Chefin des Hauses der Diakonie.

„Sie sind der Einzige, vor dem ich im Alter nicht sitzen wollte“ – das bekomme er als Leiter der Sozialen Dienste recht häufig zu hören, antwortet Rein auf die Frage, ob Altersarmut wachse. Als Grundsicherungsempfänger mit etwa 700 Euro Einkommen solle man in Leonberg Miete bezahlen und noch einigermaßen davon leben. „Das geht mit Einschnitten im Alltag einher, jede Ausgabe ist eine Belastung, die sozialen Beziehungen leiden“, ergänzt Schächterle.

„Wissen die Politiker nicht, was in der Realität abgeht?“

„Es sind oft ehemalige kleine Selbstständige, die über das 70. Lebensjahr hinaus gearbeitet haben und wo es für die Altersversorgung nicht gereicht hat – ihnen können wir kaum eine Perspektive geben“, erklärt Rein. Bei Miete und Strom könne geholfen werden, doch schon eine neue Brille werde zum Problem, sagt er und fügt hinzu: „Zum Glück haben wir dafür die LKZ-Lichtblicke.“ Auch alleinerziehend zu sein, sei heute ein Grund dafür, schnell bedürftig zu werden, wissen Simone Schächterle und Jürgen Rein. „Die Menschen arbeiten, doch es reicht vorne und hinten nicht, sie müssen beim Job-Center ihr Einkommen aufstocken und dann kommt das Problem aller Probleme: die hohe Miete“, bringt Rein das alles überstrahlende Thema wieder ins Gespräch. Er und Schächterle sind sich einig: Da ist die Politik von der kommunalen bis zur Bundesebene gefordert.

„Wissen die Politiker nicht, was in der Realität abgeht?“, will der Moderator wissen. „Es kommt einem schon so vor“, sagt Rein. In anderen Regionen stünden Häuser massenweise leer, aber es gebe keine Arbeit. Hingegen sei Leonberg in den letzten Jahren um fast 5000 Einwohner gewachsen, während das letzte soziale Wohnhaus in den 90ern bezogen worden sei, gibt Rein zu bedenken. „Die 277 Flüchtlinge, die die Stadt 2017 und 2018 aufnehmen musste, sind nicht entscheidend für den Anstieg der Mieten“, ist sich Rein sicher. „Sie aufzunehmen und ihnen ein Dach über dem Kopf zu bieten, sind wir gesetzlich verpflichtet, wie alle anderen Kommunen auch.“

„Es gehört dazu, an den Köpfen der Menschen zu arbeiten“

Er gibt aber zu bedenken, dass dafür vier Häuser gebaut wurden, aber keine Sozialwohnungen in der Zeit. Das erzeuge Unmut und Sprüche wie: „Denen schiebt ihr alles vorne und hinten rein und wir gehen leer aus“, aber andererseits müsse er sich auch anhören, ein Rassist zu sein, wenn nicht alle Erwartungen erfüllt werden. „Zu unserem Wirken gehört es auch, an den Köpfen der Menschen zu arbeiten“, sagt Schächterle. Sie ist überzeugt, dass sich die Gesellschaft zum Positiven geändert hat: „Die Menschen sehen ein, dass es Menschen braucht, die anderen helfen, sonst hätten wir nicht 120 Ehrenamtliche, die sich um den Tafelladen kümmern.“ „Und wir nicht 220 Helfer bei der Lebenshilfe“, ergänzt Rein als Vorsitzender des Trägervereins.