Einer der letzten Überlebenden des ehemaligen KZ-Leonberg, Riccardo Goruppi, ist 94-jährig verstorben.

Leonberg - Uns hat die Nachricht erreicht, dass am Mittwoch vor Ostern unser Freund Riccardo Goruppi nach einem Herzinfarkt im Alter von 94 Jahren in seiner Heimat Opicina bei Triest verstorben ist“, schreibt Eberhard Röhm von der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg. Mit ihm verliere man den zweitletzten der noch Lebenden aus der Schar ehemaliger KZ-Häftlinge, die die Initiative in den zwei Jahrzehnten ihres Bestehens ausfindig machen konnte. Jetzt lebt nur noch Avraham Ary. „Mit keinem Ehemaligen hatten wir so intensiven und regelmäßigen Kontakt wie mit Riccardo Goruppi. Wir trauern um einen Menschen, der uns mit seiner Familie fast jedes Jahr besucht hat“, schreibt Röhm in dem Nachruf.

 

Riccardo Goruppi hat in Leonberg Spuren hinterlassen, nicht nur bei den Vereinsmitgliedern, darüber hinaus auch bei Schülern, vor denen er seine Lebensgeschichte erzählt hat. Jeder Besucher einer Führung auf dem „Weg der Erinnerung“ kenne den Namen Riccardo Goruppi. Die Lotsen erzählen regelmäßig am Sammelgrab auf dem Friedhof Seestraße seine Lebensgeschichte. Riccardo Goruppi kam am 31. Dezember 1944 zusammen mit seinem Vater Edoardo in das KZ Leonberg. Dieser starb hier am 20. Januar 1945 an den Folgen von Misshandlungen und Entbehrungen und liegt in Leonberg begraben.

Bereits vor 20 Jahren – während der Arbeit der KZ-Geschichtswerkstatt – ist der erste Kontakt zu Riccardo Goruppi entstanden. Ingrid Bauz und Joachim Baur haben zusammen mit dem Übersetzer Dieter Hartmann im Juli 2000 Riccardo Goruppi, Giuseppe Zorzin, Aldo Gregorin und Giuseppe Covacich in ihrer Heimat besucht und im Büro der ANED (Associazione nazionale ex deportati politici) und ANPI (Associazione nazionale dei partigiani italiani) in Ronchi dei Legionari (Italien) ausführlich interviewt.

Mit 17 zu den Partisanen

Zum ersten Mal erfuhren die Gäste von dem besonderen Schicksal der Slowenen unter italienisch-faschistischer Herrschaft und ihrem Widerstand und Kampf für Eigenständigkeit und Menschenwürde, wofür sie verhaftet und nach Deutschland abtransportiert wurden. Und sie erfuhren von den Strapazen der Häftlinge beim jeweils zwölfstündigen Arbeitseinsatz in der Messerschmitt-Fabrik im Leonberger Autobahntunnel.

Riccardo Goruppi hatte sich als 17-Jähriger wie viele seiner Altersgenossen mehr oder weniger freiwillig der slowenischen Befreiungsfront angeschlossen. Er wurde einer Partisanen-Sprengkommando-Brigade zugeteilt. Als er am 25. November bei einer Razzia zu Hause zusammen mit seinem Vater Edoardo verhaftet wurde, stand er mit seinem Rufnamen Dinči Goruppi auf der Fahndungsliste der Besatzungsmacht. Beide wurden ins Gefängnis Coroneo nach Triest gebracht. Am 8. Dezember kamen sie in einem viertägigen Transport in das KZ Dachau und von dort am 31. Dezember nach Leonberg.

Am 8. Juli 2001 war Riccardo Goruppi zum ersten Mal Gast der KZ-Gedenkstätteninitiative in Leonberg zusammen mit sieben weiteren ehemaligen KZ-Häftlingen aus Italien, Frankreich und Norwegen. Ein zweiter Besuch mit seiner Frau Eda folgte im Oktober 2001 aus Anlass der Veröffentlichung des Buches „KZ und Zwangsarbeit in Leonberg“.

„Ab da verging kein besonderes Ereignis in der Geschichte der KZ-Gedenkstätteninitiative, an dem das Ehepaar Goruppi und bald auch die ganze Familie Gäste in Leonberg waren, sodass dank unserer Übersetzer Cornelius Renkl und Irmtraud Klein, langjähriges Vorstandsmitglied, eine enge Freundschaft entstand“, weiß Eberhard Röhm. Bei der Einweihung der Namenswand vor dem alten Engelbergtunnel 2005 sowie der Einweihung der Dokumentationsstätte im Tunnel im Jahr 2008 war die Familie anwesend.

Aber auch private Besuche gab es, die meist zu Gesprächen mit Schülern in Leonberger Schulen führten. So entstand im Jahr 2004 der Film „La Lezione“ von Angelo Ferranti, in dem Riccardo Goruppi mit einem Gespräch mit Schülern des Italienisch-Kurses des Johannes-Kepler-Gymnasiums im Mittelpunkt steht.

Beim ersten Austausch erfuhren die Mitglieder der KZ-Gedenkstätteninitiative, dass Riccardo Goruppi in früheren Jahren die Stadt regelmäßig besucht hatte, um auf dem Friedhof Seestraße das Grab seines Vaters Edoardo Goruppi zu besuchen. Noch war das Grab damals anonym. Auch die historisch Interessierten entdeckten erst über die Geschichtswerkstatt, dass Riccardo Goruppi in einer privaten Aktion eine Marmorplatte mit dem Namen seines in Leonberg verstorbenen Vaters auf das Grab gelegt hatte.

Gedenktafel für den Vater

Er war der erste, der so seines Vaters gedachte. Seiner Aktion folgten noch andere ausländische Angehörige ehemaliger Häftlinge. Auch sie legten neben der Platte für Edoardo Goruppi eine Grabplatte mit dem Namen ihres Vaters oder Großvaters. Erst im Mai 2015 wurden auf Veranlassung der KZ-Gedenkstätteninitiative am Sammelgrab auf dem Friedhof Seestraße Tafeln mit den bekannten Namen der Verstorbenen aufgestellt.

Zu Tränen gerührt sei Riccardo Goruppi gewesen, erinnert sich Eberhard Röhm, als er im Oktober 2001 entdeckte, dass die evangelische Blosenbergkirchengemeinde im Vorraum der Kirche in einem künstlerisch gestalteten Schrein im Jahr 1992 ein Gedenkbuch aufgelegt hat mit den Namen aller damals bekannten, in Leonberg verstorbenen KZ-Häftlinge – so auch mit dem von Edoardo Goruppi. Im April 2011 übergab der Enkel Roberto Goruppi zum Gedenken an seinen Opa ein selbst hergestelltes Kruzifix, das im Vorraum der Kirche neben dem Gedenkbuch hängt.

„Todeszug“ überlebt

Nach Auflösung des KZ-Außenlagers Leonberg Anfang April 1945 und der „Evakuierung“ der mehr als 3000 Häftlinge in das noch nicht besetzte Bayern wurde Riccardo Goruppi in einem der „Todeszüge“ dorthin transportiert. Er war bereits an Typhus erkrankt und kann sich an Einzelheiten nicht mehr genau erinnern.

Im schon erwähnten Interview vom 31. Juli 2000 erzählte Riccardo Goruppi auch vom Tag der persönlichen Befreiung durch US-Soldaten auf einer Todesfahrt in einem von Militär begleiteten Güterzug mit 3500 Häftlingen vom KZ Kaufering in Bayern in Richtung Dachau. Der Zug wurde am 27. April 1945 um 3 Uhr nachts von Tieffliegern beschossen und kam nur bis Schwabhausen.

Wie der im Zug ebenfalls als Häftling befindliche jüdische Arzt Dr. Z. Grindberg in einem Bericht an den Jüdischen Weltkongress in Genf am 31. Mai 1945 berichtete, zog man aus den von Jagdbombern beschädigten Waggons 136 Tote und 80 Schwerverwundete heraus.

Riccardo Goruppi überlebte. US-Soldaten brachten den Schwerkranken in das amerikanische Militärlazarett der Benediktinerabtei St. Ottilien im Kreis Landsberg. Dort konnte Riccardo Goruppi drei Monate lang unter der ärztlichen Leitung von Dr. Grindberg bleiben, bis er allmählich so weit genesen war, dass er die Heimreise antreten konnte.