Die Brüdergemeinde Korntal erklärt die Aufklärung des Missbrauchsskandals für beendet. Kritiker sehen das anders und fordern eine zweite Untersuchung.

Korntal-Münchingen/Stuttgart - Vor dem Park Inn Hotel in der Stuttgarter Innenstadt sind große Plakate aufgestellt. „Tiefe Trauer um die, die nicht die Kraft hatten, damit zu leben“ steht dort zu lesen. Und: „Wir sind Überlebende von Vergewaltigung, Demütigung und Folterungen.“ Am Sonntag haben sich die Opfer des Korntaler Missbrauchsskandals in Stuttgart getroffen, es sollte ein Abschluss sein. Die Brüdergemeinde hält die Aufklärung für beendet.

 

Aber ist es wirklich vorbei? Viele sehen es anders, und viele ehemalige Heimkinder nutzten die Gelegenheit, um für ihr Anliegen zu demonstrieren. Zeitweise hätten bis zu 20 Betroffene an der Demonstration teilgenommen, sagt Angelika Bandle.

2014 an die Öffentlichkeit gegangen

Bandle ist ein ehemaliges Heimkind, ebenso wie Detlev Zander, beide halten den im Juni veröffentlichten Aufklärungsbericht für unzureichend. So sei etwa nicht untersucht worden, ob Gemeindemitglieder oder andere Bürger Mitwisser waren – oder zwischen 1950 und 1980 gar selbst zu Tätern geworden seien. Die Kinder in den Heimen der evangelischen Gemeinde waren vielfach Opfer von sexueller, psychischer und religiöser Gewalt geworden. Zander hatte dies 2014 öffentlich gemacht. „Im Endergebnis ist das eine Täterschutz-Aufklärung und ein Brüdergemeinde-Rettungsprogramm“, sagt er jetzt. Eine zweite Untersuchung sei zwingend.

Doch diese steht derzeit nicht zur Debatte. „Dafür gibt es keine Anhaltspunkte und Gründe“, sagt der Sprecher der pietistischen Gemeinde, Gerd Sander. Die Brüdergemeinde als Träger der Kinderheime hat, wie in Aufarbeitungsprojekten üblich, die Studie finanziert.

Forderung: Verjährungsfrist streichen

Nach einem Streit verfolgen Bandle und Zander nun getrennt voneinander dasselbe Ziel. Sie sehen die Politik am Zug. „Die Verjährungsfrist muss weg. Außerdem müssen Institutionen und auch Familien strafrechtlich und finanziell in die Pflicht genommen werden“, sagt Bandle. Nach geltendem Recht verjähren Taten des sexuellen Missbrauchs nach fünf bis 30 Jahren. Zander verweist auf den Missbrauchsbeauftragten des Bundes. Johannes-Wilhelm Rörig hatte im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche ein Abkommen zwischen Staat und Kirche angeregt. Statt dass die Kirche die Vorfälle in Eigenregie aufarbeite, sollten Externe beteiligt werden, um Transparenz und Offenheit zu schaffen. Wenn es die Kirche wirklich ernst meine, müsse der Staat helfen, hatte Rörig in einem Interview gesagt.

Angelika Bandle und ihre Mitstreiter haben sich derweil zu einer Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen, die landesweit aktiv sein will. Als Gruppe wollen sich die ehemaligen Heimkinder jetzt verstärkt mit anderen organisierten Opfern von sexueller Gewalt zusammentun.

Am letzten Opfertreffen in Stuttgart haben am Sonntag rund 45 Betroffene teilgenommen. Der weltliche Vorsteher der Brüdergemeinde bat die ehemaligen Heimkinder um Vergebung. Anders als in der Vergangenheit wurde die Atmosphäre von vielen als angenehm bezeichnet. Auch von Wolfgang Schulz, auch er ein Betroffener. Ihn freue die sachliche Atmosphäre, sagte er im Anschluss. Andererseits habe er ein ungutes Gefühl, weil er nicht wisse, wo die „teils berechtigte Kritik“ der Betroffenen geblieben sei.