Nach einer monatelangen Flucht kommt der Afghane Kaihan Saraj vor sechs Jahren in Ditzingen an. Ein Holzbau-Betrieb in Höfingen gibt dem heute 24-Jährigen eine Chance, muss aber mit der deutschen Bürokratie kämpfen.

Im Jahr 2015 macht sich Kaihan Saraj auf den Weg: Aus Pakistan über den Iran und die Türkei geht es für den jungen Afghanen, über Griechenland und die Balkan-Route letztendlich nach Deutschland, genauer nach Ditzingen. Er ist einer von Hunderttausenden, die im Zuge der Flüchtlingskrise 2015/16 nach Deutschland kamen. Und eine kleine Erfolgsgeschichte. Drei Jahre hat der heute 24-Jährige eine Lehre als Zimmerer bei der Scheyhing Holzbau GmbH in Leonberg-Höfingen gemacht. Nun hat er seinen Gesellenbrief in der Hand und eine Festanstellung im Ausbildungsbetrieb.

 

Früher kamen die Azubis von der Hauptschule

Die Scheyhing Holzbau GmbH ist ein Traditionsbetrieb. Vom Urgroßvater Wilhelm Scheyhing in den 1920er Jahren gegründet, führt Ralf Scheyhing den Familienbetrieb heute in der vierten Generation. Was einst in einem Hinterhof als Ein-Mann-Betrieb begann, ist heute ein Zimmereibetrieb mit dreizehn Mitarbeitern mit Stammsitz in der Paul-Ehrlich-Straße im Gewerbegebiet Pfad. Und: Die Firma Scheyhing ist Ausbildungsbetrieb. Im vergangenen Jahr hat das Unternehmen den Preis für die gute Ausbildungsqualität von der Handwerkskammer verliehen bekommen.

Die Chancen im Handwerk stehen besser denn je. „Was ein bisschen fehlt, ist die Wertschätzung für den Handwerksberuf“, sagt Petra Hille. Sie ist Scheyhing Ehefrau, managt das Büro des Traditionsbetriebes und kümmert sich um die Auszubildenden. Kamen früher die Schüler aus der örtlichen Hauptschule, die es heute nicht mehr im Leonberger Teilort gibt, sind es heute hauptsächlich Realschüler, Abiturienten, Studienabgänger und Menschen mit Migrationshintergrund.

Auf der Flucht von der Familie getrennt

Zum Beispiel Kaihan Saraj. Saraj kommt aus Afghanistan. 2012 war die Familie aus der Hauptstadt Kabul in die pakistanische Metropole Karachi geflüchtet: Vater, Mutter und vier Kinder. „Mein Vater hat mit westlichen Regierungen zusammengearbeitet“, erklärt Kaihan Saraj. Bald wurde es in Afghanistan zu gefährlich für die Familie und sie floh aus dem Land. Bei einem Krankenbesuch bei der in Afghanistan verbliebenen Großmutter, die Kaihans Mutter alleine antrat, verstarb sie.

Drei Jahre verbrachte Kaihan Saraj in Pakistan. Er belegte Informatik-, Mathematik- und Englischkurse. Dann machte er sich mit seinem Vater und seinen Geschwistern erneut auf den Weg. Sie durchquerten den Iran und die Türkei. Von dort gingen sie auf Boote, Griechenland als Ziel. Doch nur Kaihan Saraj schaffte es übers Meer. Sein Vater und seine Geschwister, auf einem anderen Boot sitzend, wurden abgefangen und über die Türkei zurück nach Kabul gebracht. Der Kontakt zu seiner Familie sollte fortan über Jahre unterbrochen sein. Erst mit den dramatischen Szenen am Airport in Kabul sah Kaihan Saraj seinen Vater über Filmmaterial wieder.

Junger Afghane erhält kein Asyl

Der Jugendliche Kaihan Saraj war also auf sich selbst gestellt. Mit nichts als Hoffnung im Gepäck. Von Griechenland ging er über Mazedonien nach Serbien. Von dort nach Ungarn. Durch Österreich, dann acht Stunden zusammengekauert im Kofferraum von Schleppern quer durchs ganze Land bis Passau. Er ging zu Fuß, saß in Booten und Zügen. Geschlafen hat er neben Zuggleisen und auf Bahnhöfen. Er wurde angegriffen und angefeindet. Fünf Monate war er unterwegs.

In Passau dann wurden die Ankömmlinge ein- und aufgeteilt. Saraj kam in einem Flüchtlingsheim in Freiberg am Neckar unter. Über Besigheim kam er schließlich nach Ditzingen. Asyl erhielt er zwar nicht, dafür aber eine Duldung. „Er hat sich dann bei uns für ein Praktikum beworben“, erinnert sich Petra Hille. Zuvor musste er einen Deutschkurs belegen, die Voraussetzung für das Praktikum. Ein sogenannter Willkommenslotse der Handwerkskammer half dem jungen Mann und dem Höfinger Betrieb beim Weg durch den Behördendschungel.

Willkommenslotse hilft Flüchtling und Betrieb

Ein Dreivierteljahr hatte Saraj die Einstiegsqualifizierung bei der Firma Scheyhing durchlaufen. Dann begann er sofort seine dreijährige Ausbildung zum Zimmerer. Im ersten Jahr ging es nur in die Schule. „In der Schulzeit gab es keine Vergütung“, berichtet Petra Hille. Das war eine große Herausforderung. Alleine die Zuständigkeiten über zwei Landkreise hinweg zu ermitteln, war eine große Aufgabe. „Alles war sehr kompliziert, schwer zu durchschauen und überaus zeitintensiv. Ohne den Willkommenslotsen hätte ich das nicht geschafft“, sagt sie. Da Kaihan Saraj offiziell nur in Deutschland geduldet ist, musste er immer wieder Nachweise erbringen, über seine Ausbildung jetzt die Festanstellung.

Die umfangreichen Behördengänge haben der Chefin neue Horizonte eröffnet. „Viele sagen, Geflüchtete bekommen alles. Das ist absolut nicht so“, sagt Petra Hille. Und auch die schwierige Zeit der Pandemie hat Kaihan Saraj gut gemeistert, obwohl beispielsweise fördernde Deutschkurse nicht stattfanden.

Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschland

So ist es das Zusammenspiel, welches wichtig ist. Das Geben und Ergreifen von Chancen. Petra Hille von Scheyhing Holzbau hat Kaihan Saraj diese Chance gegeben. Ohne ihr Engagement und ihr Durchhaltevermögen hätte er seine Chance nicht ergreifen können. „Es ist ein langer Weg aber es gibt einem ein gutes Gefühl. Und Kaihan hat gekämpft. Er hat es verdient.“ Überdies sei er sehr beliebt bei den Kunden. Man müsse ihn an nichts erinnern und er sei immer bemüht, sein Land gut zu repräsentieren, lobt Petra Hille.

Nun hat Saraj eine Zukunft vor sich. Eine Zukunft in Deutschland. Mit seinem festen Arbeitsplatz wird er sich im nächsten Schritt um eine eigene Wohnung kümmern. Mit dieser kann er nun eine permanente Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Mit der Hoffnung, dass er bald ohne die belastenden Unsicherheiten in Deutschland leben und arbeiten darf. Und eine Verlobte hat er auch. Trägt er seine alte Heimat und die Sehnsucht nach seiner Familie auch im Herzen, bekräftigt er: „Meine Heimat ist jetzt Deutschland.“

Betriebe, die daran interessiert sind, Geflüchtete auszubilden oder einzustellen, erhalten Unterstützung bei der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart und deren beruflichen Förderung von Flüchtlingen. Im Internet zu finden auf www.eva-stuttgart.de.