Einst war sie Stuttgarts erste Doktorandin, später entwickelt sie Hilfsgeräte für Sehbehinderte und engagiert sich für die an Multipler Sklerose Erkrankten. Am Mittwoch wird die Flachterin Waltraud Schweighardt 70.

Weissach - Die erste Frau, die an der Stuttgarter Universität promoviert hat, wird am Mittwoch 70 Jahre alt. Das Geburtstagskind sitzt im großzügigen Wohnzimmer im Flachter Eigenheim, das genau so für viele Feste und Feiern mit Freunden entworfen wurde, und erinnert sich mit viel Humor an die Anfänge: „Als ich mit meinem Studium an der Stuttgarter Uni angefangen habe, waren Frauen im naturwissenschaftlichen Hörsaal die absolute Ausnahme“, erzählt sie. „Einer der Professoren betrat immer mit einem forschen ‚Guten Morgen, meine Herren‘ den Hörsaal, und das hat sich bis zum Ende nicht geändert“, sagt sie schmunzelnd. „Obwohl ich ihn darauf angesprochen habe, dass ich auch im Hörsaal sitze.“

 

Waltraud Schweighardt hat zunächst Mathematik studiert und später im damals neu entstandenen Fach Informatik promoviert. Bis zum Eintritt in den Ruhestand 2008 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Stuttgart tätig, ihr Forschungsschwerpunkt war der Einsatz von Computern für sensorisch Behinderte, insbesondere Sehbehinderte.

Was hat es mit der 8-Punkt-Schrift auf sich?

So hat die Wissenschaftlerin beispielsweise die „Stuttgarter Mathematikschrift“ entwickelt, eine 8-Punkt-Schrift, mit der im Gegensatz zu herkömmlichen 6-Punkt-Schriften auch komplizierte mathematische Sachverhalte am Rechner dargestellt werden können. „Das konnte die 6-Punkt-Schrift zwar auch, aber nicht so effektiv. Der Nutzer brauchte sehr viel Zeit, um einen Sachverhalt zu erkennen, einfach, weil er für das, was Sehende mit einem Blick erfassen, lange Zeichenfolgen ertasten musste.“

In einem anderen, von der EU geförderten Projekt hat sie mit einem Forschungsteam einen Editor entwickelt, der das Lesen mathematischer Formeln nicht nur komfortabler macht, sondern auch fühlbar. „Das war absolut neu, unser Lambda-Editor konnte verschiedene Dateiformate importieren, auf die Braillezeile oder den Bildschirm bringen, per Sprachausgabe wiedergeben und sogar für Blinde tastbar ausdrucken“, erzählt sie begeistert von ihren Projekten, die sie auch weltweit auf Fachtagungen vorgestellt hat.

Mathematik war schon in der Schule das Lieblingsfach der Jubilarin: „Das habe ich verstanden, das konnte ich einfach“, erzählt sie. Doch nicht nur das Lernen, auch das Lehren hat ihr schon von klein auf Spaß gemacht, wovon ihre jüngere Schwester ein Lied singen kann. „Ja“, sagt Waltraud Schweighardt mit einem Lachen, „ihr habe ich schon zu ihren Kindergartenzeiten englisch mit dem Schulbuch meines älteren Bruders beigebracht.“ Von der Großmutter hat sie ihr Faible für Handarbeiten geerbt, schon in der Grundschule konnte sie weit kompliziertere Dinge stricken, häkeln und nähen als ihre Mitschülerinnen.

Neue Leidenschaft: Rollschuhfahren

Als sie zum sechsten Geburtstag Rollschuhe geschenkt bekam, war eine neue, große Leidenschaft geboren. Sie übte auf den Straßen am Elternhaus und ahmte die Eiskunstläufer nach, bis sie später in den Stuttgarter Eis- und Rollsportclub (SERC) eintrat. „Meine jüngste Schwester musste mit, denn eine Familienkarte war in Summe billiger als die Einzelmitgliedschaft.“ Geld war knapp bei der sechsköpfigen Familie. Für die Eltern, die sich nach Vertreibung und Kriegsgefangenschaft im Stuttgarter Westen niedergelassen hatten, zählte jeder Pfennig. Waltraud Schweighardt trainierte mit viel Elan und Ehrgeiz, entwarf kreative Küren und hat es im Rollschuh-Gruppenlauf bis zur deutschen Meisterschaft gebracht.

1973 heiratete sie ihren Mann Jörg, das Paar zog von Stuttgart nach Leonberg und von dort nach Flacht. Doch plötzlich, zwei Jahre nach der Hochzeit, merkte Waltraud Schweighardt, dass sich ihre Sehfähigkeit veränderte. Eine Entzündung des Sehnervs, hieß es. Im Lauf der Jahre verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand, vor allem das Sehen, zunehmend, und als Sohn Felix 2006 kurz vor dem Abitur stand, war eine Reha-Maßnahme nötig. In der Klinik angekommen, teilten die Ärzte sie sofort der Multiple-Sklerose-Gruppe zu. So erfuhr sie, dass sie an dieser tückischen Erkrankung des Nervensystems litt. „Einerseits war ich froh über die Diagnose, ich wusste endlich, warum es mir immer schlechter ging. Andererseits war das natürlich auch ein Schock“, erzählt sie. Doch sie hat die Krankheit akzeptiert, ebenso wie ihr Mann, und beide machen das Beste daraus. Das ist nicht immer einfach, aber: „Die richtige Umgebung und die richtigen Menschen helfen, da fühlt man sich nicht krank.“ Vor allem, weil MS für Außenstehende nicht immer sichtbar ist und viele Einschränkungen der erkrankten Menschen auf Unverständnis stoßen.

Engagement für die Amsel

Waltraud Schweighardt ist trotz MS auch im Ruhestand aktiv. Sie ist Gemeindebeauftragte für Erwachsenenbildung in der Kirchengemeinde Flacht, und sie hat den Vorstand der „Aktion Multiple Sklerose Erkrankter“ (Amsel) der Region Leonberg übernommen. Doch heute wird gefeiert und der Krankheit nicht mehr Raum gegeben, als unbedingt nötig. Einige der Gäste kennt die aktive Seniorin noch aus Grundschultagen, andere sind erst später in ihr Leben getreten. Nur eine ist noch recht neu im Kreis der Feiernden: Enkeltochter Johanna, ein stolzes Jahr alt, darf natürlich an diesem Tag nicht fehlen.