Seit 2002 gab es in Weissach keine Jahresrechnung: Wie es zum Urteil gegen Ursula Kreutel gekommen ist.

 

Betretene Mienen machen sich im Juli 2016 im Weissacher Gemeinderat breit. Karl-Heinz Föll erklärt den Lokalpolitikern, dass es im Rathaus 15 Jahre keine oder nur fehlerhafte Jahresrechnungen gegeben hat, obwohl diese gesetzlich vorgeschrieben sind.

Daniel Töpfer (CDU), der zwei Jahre zuvor bei der Bürgermeisterwahl gegen die Amtsinhaberin Ursula Kreutel erfolgreich war, hatte den früheren Kämmerer von Fellbach als Honorarkraft engagiert, um die Buchführung wieder in Ordnung zu bringen. Eine Herkulesaufgabe, die viel Zeit kostet. Und viel Geld: Fast 3800 Stunden ist Föll für Weissach im Einsatz und bekommt dafür mehr als 214 000 Euro.

Die Gemeinde verklagt Kreutel und Haindl

Diese Summe und einige kleinere Beträge sind es dann, die die Gemeinde der früheren Bürgermeisterin und dem einstigen Kämmerer Horst Haindl in Rechnung stellt. Als diese nicht bezahlen, werden sie von der Gemeinde verklagt. Töpfer holt sich dafür einen Ratsbeschluss.

Wann haben Sie von den Missständen Kenntnis bekommen?

Entgegen der Behauptung in der mündlichen Verhandlung am 28. Mai, dass ich praktisch mit meinem ersten Arbeitstag im September 2006 vollumfänglich über die Überlastungssituation in der Kämmerei informiert gewesen wäre, war mir bei Amtsantritt nicht bewusst, dass unter anderem Abschlüsse der vergangenen Jahre nicht formal festgestellt worden waren. Die erste Zeit führt man Gespräche mit den Führungskräften und Mitarbeitern. Von niemandem wurde mir in dieser Phase signalisiert, dass wir im Grunde in allen Verwaltungsbereichen Rückstände hatten. Im Nachhinein kann ich resümieren, dass bei meinem Amtsantritt die Verwaltung bis dahin in vielen Bereichen vor allem mit der „Kür“ beschäftigt wurde und dadurch mit der „Pflicht“ in Rückstand geraten war.

Vom Landratsamt gab es Hinweise.

In der Tat wurden wir vom Landratsamt darauf hingewiesen, dass etwas im Argen liegt. Allerdings habe ich das anfangs eher als formales Versäumnis wahrgenommen. Es lagen ja jeweils Haushaltspläne vor, in denen die Vorjahreszahlen dargestellt waren. Sie waren nach meiner damaligen Interpretation lediglich noch nicht formal festgestellt.

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Auch die Gemeindeprüfungsanstalt als Kontrollbehörde hat die Situation im Weissacher Rathaus bemängelt.

Als sich Anfang 2009 die Gemeindeprüfanstalt GPA anmeldete, sah ich aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen in anderen Verwaltungen dieser Prüfungssituation relativ entspannt entgegen. Das Prüfungsergebnis für die Jahre 2004 bis 2007 sprengte dann aber meine Vorstellungskraft. Die größten und für mich damals wichtigsten Beanstandungen betrafen den Personalbereich. Stellen waren teilweise nicht beschrieben und bewertet. Es gab teilweise keine Arbeitsverträge für kurzfristig beschäftigte Mitarbeiter. Mit dem Effekt, dass diese unbefristet bei der Gemeinde beschäftigt gewesen wären. Daraus hätte dann tatsächlich ein nicht unerheblicher Schaden für die Gemeinde entstehen können. Daher wurden solche akuten Themen bevorzugt bearbeitet. Die Liste schien unendlich. Neben nicht korrekt abgewickelter Geldanlagen und Grundstücksgeschäfte wurden unter anderem auch die formal noch nicht festgestellten Jahresabschlüsse genannt. Wenn Sie vor so einem Riesenberg an Herausforderungen stehen, gilt dennoch: nach „1“ kommt „2“. Mein Schwerpunkt lag nicht darauf, die Schuld bei meinen Vorgängern zu suchen, sondern mit den Mitarbeitern den Kraftakt anzugehen, die erforderlichen Aufgaben zu erledigen. Vielleicht habe ich die falschen Prioritäten gesetzt oder habe grundsätzlich den falschen Ansatz gewählt. Sonst säßen heute womöglich andere auf der Anklagebank.

Hat der Gemeinderat nichts gesagt?

Der Gemeinderat war informiert. Angesichts der komfortablen finanziellen Ausstattung hatte sich im Gemeinderat mehrheitlich eine gewisse Lässigkeit eingestellt. Die Fraktionen waren mehrheitlich auf immer neue Projekte fixiert, die umfangreiche Tätigkeiten bei der Verwaltung auslösten und zumeist viel Geld gekostet haben. Die Verwaltung hat in den Jahren vor meiner Amtszeit so viele große Baumaßnahmen in kürzester Zeit geschultert, die andere Gemeinden unserer Größe einzeln im Abstand von Jahrzehnten umsetzen. Am Ende waren es einfach zu viele Projekte, die die Verwaltung nicht mehr bewältigen konnte.

Aber Sie haben nicht gegengesteuert?

Wir haben gegengesteuert und die Kämmerei um eine Mitarbeiterin aufgestockt. Der Kämmerer hatte mir versichert, dass wir so in der Lage gewesen wären, die Rückstände aufzuarbeiten. Darauf habe ich vertraut. Aus heutiger Sicht scheint es naiv, dass ich erwartet hatte, dass er deutlich Alarm schlägt. Dass ich das nicht früher erkannt habe, werfe ich mir vor.

Wie setzt sich der Betrag zusammen, den Sie zahlen müssen?

Der Kämmerer und ich sind als Gesamtschuldner verurteilt. Der eingeklagte Betrag beläuft sich auf rund 1000 Euro versäumte Skonto-Abzüge und 6000 Euro Bußgelder, die der externe Dienstleister recherchiert hat. Sowie über 200 000 Euro Honorare für den externen Dienstleister. Dieser hat im Auftrag meines Nachfolgers unter anderem die ausstehenden Jahresrechnungen erstellt.

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Für so viel Geld?

Der externe Dienstleister war sehr fleißig und hat für einen ordentlichen Stundensatz oft täglich bis zu zehn Stunden gearbeitet. Da kommen schon mal Vergütungen von 400 bis 500 Euro am Tag zusammen. Selbst aus dem Urlaubsort in Kroatien war er tätig. Bemerkenswert ist meines Erachtens, dass wenige Tage vor den Zahlungsaufforderungen auf Schadensersatz, die an den Kämmerer und an mich zugestellt wurden, der Vertrag für den externen Dienstleister erweitert wurde. Er erhielt rückwirkend außer den Fahrtkosten nun auch die Zeit für An- und Abfahrten vergütet. Die Fahrtzeiten haben sich beispielsweise für das Jahr 2017 neben der Arbeitszeitvergütung von über 77 000 Euro auf über 13 000 Euro summiert.

Wann kam die Zahlungsaufforderung?

Am 11. Dezember 2017 wurde an den Kämmerer und mich die Zahlungsaufforderung zugestellt. Wir wurden aufgefordert, bis zum 27. Dezember der Gemeinde 218 000 Euro zu überweisen. Am 28. Dezember hat die Gemeinde Weissach Klage erhoben, die am Gericht einen Tag später eingegangen ist und uns am 4. Januar 2018 zugestellt wurde.

Das Urteil richtet sich gegen Sie beide?

Ja, das Urteil richtet sich gegen uns als Gesamtschuldner. Da ich Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt habe, ist das Urteil lediglich teilweise rechtskräftig.

Die Hälfte er, die Hälfte Sie?

Beide Schuldner schulden die gesamte Summe. Der Gläubiger, hier die Gemeinde Weissach, kann sich bei dem Schuldner „bedienen“, der ihr am zahlungskräftigsten erscheint. Den internen Ausgleich müssen die Schuldner unter sich klären.

Ist Ihre Berufung am Verwaltungsgerichtshof in Mannheim zugelassen?

Der Antrag auf Berufung ist gestellt. Wir rechnen damit, dass über den Antrag noch in diesem Jahr entschieden wird und dann das Berufungsverfahren beginnt.

Wer vertritt Sie in der Verhandlung?

Im weiteren Verfahren werde ich von der Kanzlei Wolfgang Kubicki vertreten.

Oh, der wortgewandte stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende?

Meines Erachtens, und Prozessbeobachter haben mich darin bestärkt, hätte bei mehr Engagement meines bisherigen Rechtsvertreters das Urteil bereits jetzt anders lauten können. Die mündliche Verhandlung war enttäuschend.

Der wortgewandte FDP-Vite Wolfgang Kubicki ist Ursula Kreutels neuer Anwalt. Foto: dpa-Zentralbild

Und bei Kubicki setzen Sie auf den Promi-Faktor?

Der Promi-Faktor nutzt mir nichts. Er ist ein guter erfolgreicher Anwalt. Sein Büro ist spezialisiert in allen Rechtsbereichen, die in dieser Gemengelage tangiert sind. Ex-Kolleginnen haben mir Herrn Kubicki empfohlen. Er hat unter anderem die frühere Pforzheimer Oberbürgermeisterin in einem Derivate-Verfahren erfolgreich verteidigt. Bereits beim ersten Gespräch war mir Herr Kubicki sehr sympathisch – die Chemie hat gestimmt. Er ist von unserem Erfolg überzeugt – also genau mein Mann!

Fühlen Sie sich unschuldig?

Ja! Natürlich habe ich, wie jeder Mensch, der etwas bewegen möchte, während meiner Amtszeit auch Fehler gemacht, Entscheidungen getroffen, die ich aus heutiger Perspektive anders bewerten würde. Vielleicht hätte ich die Prioritäten anders setzen müssen. Durch die Rückstände, die insbesondere durch die Vielzahl der Bau-Projekte aus der Vergangenheit entstanden sind, sind tatsächlich Unkosten in Höhe eines vierstelligen Betrags für die Gemeinde entstanden. Während ich mich mit dem Gemeinderat darüber verständigt hatte, dass wir die Aufarbeitung durch die Verlängerung der Dienstzeit des scheidenden Kämmerers organisieren, hat sich mein Nachfolger für einen anderen Weg entschieden. Falls das ein Schaden sein sollte, haben diesen weder der ehemalige Kämmerer noch ich zu vertreten.

Was passiert, wenn die Berufung scheitert?

Dennoch hat nicht Bürgermeister Töpfer alleine entschieden, Sie zu verklagen. Das war der Gemeinderat.

Eine Gemeinderätin und eine ehemalige Gemeinderätin haben in Ihrer Zeitung erklärt, dass der Schadensersatz-Beschluss nicht einstimmig war. Diese beiden haben offensichtlich verstanden, um welch weitreichenden Beschluss es für zwei ehemalige Mitarbeiter der Gemeinde geht. Andere Gemeinderäte zeigten sich mir gegenüber überrascht, dass es tatsächlich zu einer Verhandlung gekommen ist. Das sei vom Gemeinderat so nicht gewollt gewesen. Ob mich diese Gemeinderäte nun anlügen oder ob ihnen nicht bewusst war, über was sie abgestimmt haben – ich weiß nicht, welche dieser Alternativen ich beschämender finden soll. Andere wiederum sagten, dass ihnen angedroht wurde, dass sie bei Nicht-Zustimmung privatrechtlich in Haftung genommen werden könnten. Vom Gemeinderat bin ich, bis auf die bereits genannten Ausnahmen, enttäuscht.

Wären Sie wirtschaftlich vernichtet?

Ex-Bürgermeisterinnen verfügen leider nicht über die Einkünfte von Top-Managern. Bei Scheitern der Berufung wäre meine Altersvorsorge dahin. Neben der bisher genannten Schadensersatzsumme kämen ja noch erhebliche Prozesskosten hinzu. Ich gehe davon aus, dass ich dann Privat-Insolvenz anmelden müsste. Die Unterstützung meiner 21-jährigen Tochter, die seit diesem Monat die Meisterschule besucht, wäre nicht möglich.

Wovon leben Sie im Moment?

Nach über 27 Jahren im öffentlichen Dienst habe ich Anspruch auf eine reduzierte Pension. Darüber hinaus bin ich freiberuflich tätig und führe Betreuungen für Personen, die Geschäfte nicht selbst führen können. Dabei verwalte ich teilweise größere Vermögen. Bei eigener Privat-Insolvenz müsste die weitere Eignung für diese Tätigkeit von den zuständigen Amtsgerichten wohl verneint werden.

„Ich habe auch an Suizid gedacht“

Das Verfahren wird sich noch lange hinziehen. Wie geht es Ihnen dabei?

Momentan wieder etwas besser. Aber ich habe immer wieder Tiefpunkte, in denen mich zum Glück meine Tochter und gute Freunde auffangen. Wenn Sie in Ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind, steckt das niemand einfach so weg. Es gab Situationen, in denen ich auch an Suizid gedacht habe. Aber ich habe meine positive Lebenseinstellung wiedergewonnen. Es geht immer weiter, und ich bin neuen Herausforderungen gewachsen.

War es im Nachhinein ein Fehler, sich in Weissach für das Amt der Bürgermeisterin zu bewerben?

Das Leben bringt Erfahrungen, schöne und weniger schöne. Nach acht arbeitsreichen Jahren nicht wiedergewählt zu werden, ist nicht schön. Aber damit hätte es auch genug sein können. Dennoch hatte ich eine tolle Amtszeit in Weissach mit engagierten Bürgern und einem motivierten und leistungsfähigen Team. Der Versuch, meine Amtszeit auf versäumte Rechnungsabschlüsse zu reduzieren, tut weh.

Fatale Fehler mit fatalen Folgen

Seit 2002 gab es in Weissach keine Jahresrechnung: Wie es zum Urteil gegen Ursula Kreutel gekommen ist.

Betretene Mienen machen sich im Juli 2016 im Weissacher Gemeinderat breit. Karl-Heinz Föll erklärt den Lokalpolitikern, dass es im Rathaus 15 Jahre keine oder nur fehlerhafte Jahresrechnungen gegeben hat, obwohl diese gesetzlich vorgeschrieben sind.

Daniel Töpfer (CDU), der zwei Jahre zuvor bei der Bürgermeisterwahl gegen die Amtsinhaberin Ursula Kreutel erfolgreich war, hatte den früheren Kämmerer von Fellbach als Honorarkraft engagiert, um die Buchführung wieder in Ordnung zu bringen. Eine Herkulesaufgabe, die viel Zeit kostet. Und viel Geld: Fast 3800 Stunden ist Föll für Weissach im Einsatz und bekommt dafür mehr als 214 000 Euro.

Die Gemeinde verklagt Kreutel und Haindl

Diese Summe und einige kleinere Beträge sind es dann, die die Gemeinde der früheren Bürgermeisterin und dem einstigen Kämmerer Horst Haindl in Rechnung stellt. Als diese nicht bezahlen, werden sie von der Gemeinde verklagt. Töpfer holt sich dafür einen Ratsbeschluss.

Im Juli dieses Jahres urteilt das Verwaltungsgericht Stuttgart, dass Kreutel und Haindl 223 000 Euro gemeinsam bezahlen müssen. Basis sind die Honorare für den Prüfer Karl-Heinz Föll. Der gesundheitlich angeschlagene Haindl reagiert nicht. Kreutel hingegen legt Berufung beim Verwaltungsgerichtshof ein.

Während die Mehrheit im Gemeinderat von den Mängeln im Rathaus nichts mitbekommen haben will, räumen die Ratsfrauen Susanne Herrmann und Marga Schmälze eine Mitverantwortung des Gremiums ein und stimmen gegen die Klage.