Bernd Murschel und Birgit Widmaier über ihren Wahlerfolg, das Profil einer attraktiven Stadt, Urbanität unter ökologischen Aspekten und eine den Menschen zugewandte Verkehrspolitik.

Leonberg - Seit Mai liegt Leonberg im Trend vieler Städte: Acht Grüne sitzen im Gemeinderat – sie stellen die stärkste Fraktion. Bei der Kommunalwahl erhielten sie 24,2 Prozent. Der Erfolg verführt die Fraktionsspitze mit Bernd Murschel und Birgit Widmaier aber nicht dazu, den anderen Ratskollegen die kalte Schulter zu zeigen, wie sie beim Sommergespräch im Pomeranzengarten versichern.

 

Frau Widmaier, Herr Dr. Murschel, liegt Ihr Erfolg bei der Kommunalwahl im Bundestrend oder gibt es lokale Effekte?

Murschel: Wir sind sehr froh über dieses Ergebnis, das aber nicht nur auf den Bundestrend zurückzuführen ist. Denn nicht überall im Umland haben die Grünen so gut abgeschnitten.

Widmaier: Die Menschen legen mehr Wert auf eine grüne Politik. Und da liegt in Leonberg einiges im Argen. Aber wir werden auch in Zukunft mit den anderen Fraktionen gut zusammen arbeiten

Was liegt im Argen?

Murschel: In Leonberg nimmt die Verdichtung extrem zu. Obwohl der Bedarf nach Wohnraum groß ist, wollen die Menschen, dass Grün erhalten bleibt. Aktuelles Beispiel sind die Bäume vor der ehemaligen Hauptpost, die im Zuge der Umgestaltung des Postareals fallen sollen. Der Widerstand zeigt: Da läuft was schief.

Was läuft schief?

Murschel: Die Stadt nimmt sich einen Investor und sagt: Du machst das jetzt! Der Investor allerdings hat vor allem die ökonomische Optimierung im Sinne. Wir legen Wert auf eine hochwertige Gestaltung.

Widmaier: Das bedeutet, dass die Bäume erhalten bleiben und viel Raum für Fußgänger und Radfahrer vorhanden ist. Auch das Problem der Anlieferung der Geschäfte muss geklärt werden.

Wollen Sie beim Postareal lieber warten?

Murschel: Nein, wir müssen nicht warten. Der Kerngedanke des Brückenschlags, der den Marktplatz mit der neuen Stadtmitte verbindet, ist gut. Der muss aber für die Menschen da sein, nicht für Autos.

Soll der Marktplatz völlig autofrei sein?

Widmaier: Darüber muss man diskutieren. In anderen Städten geht es ja auch. Zumal wir mit der Altstadt-Garage ein prinzipiell gutes Parkhaus haben. Was nicht heißt, dass hier keine Verbesserungen nötig sind, gerade bei der Beschilderung. Auch bedarf es einer besseren Vermarktung. Viele haben eine Hemmschwelle, dort hineinzufahren.

Attraktive Stadt, Verkehr und Busnetz

Wie definieren Sie eine attraktive Stadt?

Widmaier: Es ist ein Zusammenspiel verschiedener Themen: Wir brauchen ein gutes Sortiment im Handel und Aufenthaltsqualität, um im Wettbewerb mit unseren Nachbarn am Ball zu bleiben.

Murschel: Umso wichtiger ist ein autofreier Brückenschlag zum Marktplatz.

Oberbürgermeister Cohn will prüfen, ob die Eltinger Straße verkleinert werden kann.

Murschel: Das ist in der Tat die Hauptkampflinie im Zentrum, die hundertprozentig den Autos untergeordnet ist. Dort brauchen wir aber Raum für Busse, Fußgänger und Radler.

Es gibt die erweiterten Bürgersteige, zum Beispiel vor der Römergalerie oder gegenüber des Leo-Centers.

Widmaier: Diese Mischzonen funktionieren nicht. Jetzt im Sommer ist dort Außengastronomie, was sehr schön ist. Aber dadurch haben die anderen keinen Platz. Wir brauchen aber den Platz.

Murschel: Im Moment haben wir den nicht. Deshalb wird irgendjemand beschnitten werden müssen.

Wer konkret?

Murschel: Konkret der Autoverkehr. Wir haben keine Zeit mehr für ausufernde Debatten. Der Verkehr nimmt zu, die Luftverschmutzung auch. Das macht die Innenstadt nicht gerade lebenswert.

Die SPD schlägt vor, den Durchgangsverkehr erst gar nicht in die Stadt zu lassen.

Widmaier: Wir benötigen eine Zuflussregulierung, sodass den Fahrern schon früh signalisiert wird: Hier ist dicht.

Braucht Leonberg ein eigenes Busnetz?

Widmaier: Das ist dringend nötig. Die Stadtteile müssen besser angebunden werden, zum Beispiel mit kleinen Bussen, die dafür öfter fahren. Und in der Kernstadt braucht es direkte Linien. Der Umweg über den Bahnhof kostet zu viel Zeit.

Murschel: Die Krux sind die unterschiedlichen Zuständigkeiten: Die Landkreise, die Region, der Verkehrsverbund VVS und die angrenzenden Verbünde. Das aufzuschrauben, ist extrem schwierig.

Immerhin kommt jetzt das Tagesticket.

Murschel: Das kann nur ein erster Schritt sein. Wir brauchen auch gute Preise für nur eine Fahrt. Für unseren riesigen Ballungsraum haben wir einfach keinen günstigen Nahverkehr.

Die ganze Diskussion wird vor dem Hintergrund des Klimawandels geführt.

Murschel: Ich habe bei mir zuhause eine Messstation. Die bestätigt den Trend. Es wird tagsüber heiß, oft mehr als 30 Grad. Und wir haben immer mehr Tropennächte. Wobei in Leonberg die Temperaturen erträglicher sind als im Stuttgarter Talkessel. Man spürt den Klimawandel vor Ort. Das ist auch eine kommunale Aufgabe.

Was kann eine Kommune machen?

Widmaier: Zum Beispiel ein klimaschonendes Wärmenetz aufbauen: Kleiner Heizeinheiten für mehrere Häuser.

Weniger Verkehr in die Stadt

Das Kernproblem ist in den Augen der meisten Menschen der Verkehr. Würde nicht doch eine Umgehungsstraße helfen?

Murschel: Die Diskussion ist so alt wie Methusalem. Wir haben die besten Umgehungsstraßen: die Autobahnen...

...die schon jetzt dicht sind und bei der anstehenden Sanierungs des Engelbergtunnels vollends verstopft sein werden.

Murschel: Das ist eine zeitlich begrenzte Ausnahmesituation, durch die wir wohl durch müssen.

Widmaier: Nächtliche Vollsperrungen dürfen aber nur am Wochenende sein, wenn keine Lastwagen unterwegs sind. Die Kolonnen, die in den vergangenen Monaten immer wieder durch die Stadt geschleust wurden, sind nicht akzeptabel.

Murschel: Im Normalfall muss das Ziel aber lauten: Weniger Verkehr in die Stadt! Mehr Raum für Fußgänger, Radler, mehr Busse und Bahnen.

Auch die umstrittene Hesse-Bahn?

Murschel: Ich setze mich seit Jahren dafür ein, die Schwarzwald-Strecke zu reaktivieren. Davon profitieren Weil der Stadt, Renningen und Leonberg.

Widmaier: Man muss auch an die Menschen in der Region Calw denken, die letztlich auf das Auto angewiesen sind, um in Richtung Stuttgart zu fahren.

Kritiker sagen, die Hesse-Bahn könnte den Takt der S-Bahn durcheinanderbringen.

Murschel: Diese Endlos-Debatte kann ich nicht nachvollziehen. Es ist vertraglich festgelegt, dass die S-Bahn Vorrang hat. Das Optimum wäre eine Expressbahn von Stuttgart nach Calw mit nur wenigen Zwischenhalten.

Ein weiterer Einwand ist die fehlende Elektrifizierung ab Weil der Stadt.

Murschel: Das ist ein Totschlag-Argument, denn das kann in den nächsten Jahren keiner bezahlen. Aber es gibt Wasserstoffzüge, die in Norddeutschland schon erfolgreich im Einsatz sind.

„Mir fehlt die Stringenz“

Oberbürgermeister Cohn ist jetzt mehr als anderthalb Jahre im Amt. Ihr Resümee?

Widmaier: Er ist offen für neue Ideen. Im Rathaus hat er einiges zu tun, um gutes Personal zu halten und zu gewinnen.

Murschel: Mir fehlt die Stringenz. Seine frühere Wirkungsstätte Rudersberg ist nicht Leonberg. Ich wünsche mir, dass er eng mit den Fraktionen zusammenarbeitet. Man muss viel mehr im Konsens erreichen, sonst gibt es Endlosdebatten.

Ist ein OB ein Moderator oder muss er die Richtung vorgeben?

Widmaier: Beides. Er muss die unterschiedlichen Ansichten harmonisieren, aber er muss auch Impulse setzen.

Wir hatten schon die Verdichtung in der Stadt angesprochen. Wie viel kann noch gebaut werden?

Murschel: Mit dem bisherigen TSG-Gelände, der Randbebauung am Stadtpark und verschiedenen Flächen in den Stadtteilen haben wir einige Gebiete. Entscheidend ist das gesunde Gleichgewicht zwischen Grüngürteln und einer attraktiven Architektur. Ein Negativbeispiel ist das Layher-Areal: Da blutet mir das Herz.

Widmaier: Im Postareal könnten wir ein zukunftsweisendes Zeichen setzen: Ein hohes Haus mit Fassadenbegrünung. Wichtig ist, dass wir bei allen Projekten die im Gemeinderat beschlossenen 25 Prozent bezahlbaren Wohnraums konsequent umsetzen.

Sind die zahlreichen Vorhaben überhaupt finanzierbar?

Widmaier: In der Tat müssen wir eine abflauende Konjunktur in den Haushaltsberatungen mit einbeziehen. Auf jeden Fall müssen wir unsere Bildungsinfrastruktur aufrecht erhalten.

Wo kann gespart werden?

Murschel: Die Stadthalle belastet den Haushalt nach wie vor sehr stark.

Sie hatten sich schon für einen Abriss ausgesprochen.

Widmaier: Der Sanierungsbedarf ist immens, die Konkurrenz groß. Im Zweifelsfall muss man sich das als Option offenhalten. Zumal man sich auf diesen Flächen etwas anderes vorstellen könnte.