In Calw steht das einzige Frauenhaus weit und breit. Im Kreis Böblingen gibt es seit neun Jahren keines mehr, weil der Verein „Frauen helfen Frauen“ keine Immobilie findet. Dabei steigt der Bedarf.

Calw - Wenn jetzt eine Frau in Not ist? „Dann müssen wir leider absagen“, sagt eine der Betreuerinnen am Freitagmittag. Das Frauenhaus in Calw ist voll. Es hat zwar 20 Plätze, aber aufgrund der derzeitigen Abstands-Regeln können nur 16 Personen, also Frauen und ihre Kinder, in dem Haus unterkommen. Vier hauptberufliche Sozialarbeiterinnen in Teilzeit beschäftigt der Verein „Frauen helfen Frauen“ dort. Wir sprechen mit zwei von ihnen. Sie wollen ihre Namen nicht in der Zeitung, um es Tätern nicht zu erleichtern, ihnen nachzustellen.

 

Corona wirbelt auch bei uns alles durcheinander“, sagt eine der Sozialpädagoginnen. Und das in mehrfacher Hinsicht. Abstand, Masken und Desinfektionsmittel galt es zu organisieren. Überlegen, wie Hilfe weiter möglich ist. „Wir haben uns entschieden, weiterhin persönliche Gespräche anzubieten“, berichtet die Frauenhaus-Mitarbeiterin. „Gerade in solch schweren Zeiten sind Gespräche unheimlich wichtig.“

Hilfe-Bedarf steigt in Corona-Zeiten

Die Nachfrage nach Hilfe ist in der Corona-Krise sprungartig angestiegen. Die Calwerinnen mussten sogar das Personal aufstocken. Unbürokratische Hilfe gab es vom Landratsamt, das eine Ferienwohnung anmietete. Dort wohnen hilfesuchende Frauen jetzt zuerst in Quarantäne, bevor sie ins Frauenhaus kommen.

Und die Hilfesuche kommt von überall. „Wir merken, dass in der Region Plätze fehlen“, sagt die Sozialpädagogin. Calw ist das einzige Frauenhaus weit und breit, im benachbarten Kreis Freudenstadt gibt es keines, im Enzkreis auch nicht und ebenso wenig im Kreis Böblingen. 2011 hatte der dortige Verein „Frauen helfen Frauen“ sein Haus in Sindelfingen nach 30 Jahren schließen müssen – es war eines der ältesten im Land. Es hatte Platz für zwölf Frauen und deren Kinder geboten, war aber damals zu groß geworden, weil es selten voll belegt war.

Schon seit damals ist der Verein im Kreis Böblingen auf der Suche nach einer neuen Immobilie, bislang erfolglos. Es gibt Verhandlungen, heißt es beim Vorstand von „Frauen helfen Frauen“ in Böblingen, man will aber nicht konkret werden, bevor es nicht in trockenen Tüchern ist. Unterstützung gibt es vom Landratsamt. „Die Einrichtung eines Frauen- und Kinderschutzhauses im Landkreis Böblingen ist für uns eine wichtige Aufgabe, an der intern das Finanz- und Sozialdezernat eng zusammenarbeiten“, sagt Pressesprecherin Simone Hotz auf Nachfrage. Das Amt für Gebäudewirtschaft suche schon länger aktiv nach einer Immobilie oder einem Grundstück für einen Neubau. Das sei aber schwierig wegen der hohen Anforderungen und der angespannten Situation auf dem Immobilienmarkt.

Landesweit fehlen Plätze

Karin Zimmermann arbeitet bei der Beratungsstelle bei häuslicher Gewalt in Böblingen und Leonberg und muss solange auf ein Netzwerk von 42 Frauenhäusern in ganz Baden-Württemberg zurückgreifen, wenn es Bedarf gibt. Die dortige Unterbringung ist aber erst der vierte Schritt, sagt die Pädagogin. „Zuerst überlegen wir, ob es private Lösungen bei Verwandten der Freunden gibt.“ Dann probiere man, Frauen mit dem Gewaltschutzgesetz oder dem Polizeirecht zu schützen. „Erst, wenn das alles nichts bringt, suchen wir nach einem Frauen- und Kinderschutzhaus“, berichtet Zimmermann. Dann greift sie zum Telefon. „Schon vor Corona haben in Baden-Württemberg Plätze gefehlt“, sagt sie jedoch.

Etwa in Esslingen, wo es ein Frauenhaus gibt. Es müssten Frauen abgewiesen werden – auch, weil man von den 17 Plätzen nur zwölf belegen kann, um die Quarantäne- und Hygiene-Regeln einhalten zu können, berichtet Heike Liekam vom Frauenhaus. Im Landkreis Ludwigsburg sei die Zahl der Fälle leicht gestiegen, ebenso die Anfragen, sagt Arezoo Shoaleh von „Frauen für Frauen“.

„Das bestehende Problem, dass es in Baden-Württemberg viel zu wenig Plätze gibt, wird durch die Corona-Krise deutlich verschärft“, stellt auch Andrea Bosch von der Koordinierungsstelle der Landesarbeitsgemeinschaft Autonomer Frauenhäuser in Stuttgart fest. Die Liga der Freien Wohlfahrtspflege forderte, vorübergehend die leer stehenden Hotels und Ferienwohnungen im Land zu nutzen.

Calwer Frauenhaus ist oft überbucht

So, wie man es in Calw getan hat. Denn auch dort ist das Frauenhaus regelmäßig überbucht. 128 Betroffenen mussten die Betreuerinnen allein 2019 absagen. Fünf Absagen gab es, weil das Calwer Haus nicht behindertengerecht ist. 20 Mal schlug die Bürokratie zu, es gab nämlich keine Kostenzusage von den Landratsämtern. Die Ämter aus den Heimatorten der Frauen müssen nämlich die Kosten tragen. 89 Frauen musste in Calw im vergangenen Jahr abgesagt werden, weil das Haus schlicht voll war.

Auch derzeit geht das so weiter. Allein im Mai habe es schon zwei Anfragen aus dem Kreis Böblingen gegeben, berichten die Calwer Sozialpädagoginnen. Das allein ist zwar noch nicht außergewöhnlich, denn einige Frauen melden sich bewusst nicht im eigenen Landkreis, um weit weg vom Täter zu sein. Für andere Frauen dagegen ist eine Einrichtung in der Nähe existenziell wichtig: „Sonst müssten sie den Beruf und den Kita-Platz für das Kind aufgeben, und das erhöht die Hürde, Hilfe zu suchen, noch mehr“, sagt die Sozialarbeiterin. Dabei ist es für viele Frauen ohnehin schon schwierig, sich zu öffnen.

Häusliche Gewalt nimmt zu

Die Mitarbeiterinnen des Calwer Frauenhauses ermuntern deshalb, genau das zu tun – gerade in der jetzigen Corona-Zeit. Sie fürchten nämlich eine riesige Dunkelziffer. Wenn der Partner den ganzen Tag im Homeoffice ist, haben Frauen wenig Möglichkeiten, Hilfe zu rufen. Dann gibt es die Angst vor Ansteckung in einer Gemeinschaftsunterkunft. Und das soziale Umfeld fehlt – Erzieherinnen, Freundinnen, Nachbarn, die Gewalt bemerken und selbst melden oder die Frauen ermuntern, Hilfe zu holen.

Und die Gewalt steigt. „Väter, die vorher Zwölf-Stunden-Tage hatten, sitzen jetzt zu Hause und haben dann auch noch Kinder im Homeschooling um sich“, nennt die Sozialarbeiterin einen der Gründe. „Da verlieren manche dann die Nerven, das löst Aggressionen aus.“ Die Gewalt gehe dabei durch alle sozialen und gesellschaftlichen Schichten.

Manche Frauen bleiben dann nur einen Tag im Frauenhaus, andere wohnen dort ein Jahr lang. Der angespannte Immobilienmarkt macht es den Frauen zudem schwer, sich was Eigenes zu suchen. In Calw leben die Frauen in Wohngemeinschaften zusammen, teilen sich die Küche und das Bad. Und auch das Leben im Frauenhaus hat sich durch Corona verändert. „Da die Kinder jetzt Homeschooling machen, mussten wir das W-Lan verstärken und Laptops anschaffen“, berichtet die Sozialarbeiterin. Und einmal pro Tag treffen sich alle. „Gerade in der Krise ist es wichtig, Stabilität zu geben.“

Dass ein Frauenhaus wichtig ist, davon sind sie in Calw überzeugt – auch nach Einführung des Gewaltschutzgesetzes vor 18 Jahren. Seitdem darf die Polizei bei häuslicher Gewalt zum Beispiel ein Betretungsverbot für eine Wohnung aussprechen. „Das reicht oft nicht, um die Sicherheit der Frauen zu gewährleisten“, ist die Erfahrung der Calwer Sozialarbeiterinnen. „Und die Fälle nehmen zu.“