Tonscherben, Keramik-Fragmente und sogar ein Skelett: Die Grabungen im Baugebiet „Bruhweg II“ bringen Erstaunliches zutage.

Das haben selbst die Profis nicht erwartet. Die seit vergangenen Juni laufenden Rettungsgrabungen an der Ditzinger Straße in Gerlingen haben die Erwartungen der Archäologen bei weitem übertroffen. Der wissenschaftliche Projektleiter im Landesamt für Denkmalpflege, Christian Bollacher, spricht angesichts von bereits mehr als 10 000 Befunden auf der erst etwa zur Hälfte geöffneten Grabungsfläche „von einem sehr bedeutenden Fund“. Die Zahl der im Erdreich gesicherten Befunde sei überraschend groß. „Wir sehen anhand der Befunde auf dem acht Hektar großen Ausgrabungsareal, wie die Wohnhäuser der damaligen Menschen ausgesehen haben, wo sie standen und dass sie sogar regelmäßig renoviert und erneuert wurden.“ Wie der Archäologe betont, sei aus der Epoche der Mittleren Jungsteinzeit im Land nur eine einzige vergleichbare Siedlung bekannt. Sie war in den 1960er-Jahren bei Heilbronn-Kochendorf entdeckt worden. Das jungsteinzeitliche Gerlinger Dorf, das Spezialisten der ortsansässigen Grabungsfirma ArchaeoBW derzeit dokumentieren, wird auf die erste Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrtausends datiert.

 

Grabungen dauern noch das ganze Jahr an

Weil das bereits seit rund 100 Jahren bekannte Gerlinger Kulturdenkmal, das auf der Fläche des rund zwölf Hektar großen künftigen Neubaugebiets Bruhweg II liegt, weit ergiebiger ist, als die Archäologen erwartet hatten, muss die Ausgrabung nun verlängert werden. Statt der ursprünglich anberaumten zwölf Monate Grabungszeit, soll die Rettungsgrabung jetzt erst Ende des Jahres abgeschlossen sein. „Wenn uns das Wetter keine Kapriolen schlägt, werden wir das auch schaffen“, sagt Bollacher.

Die Begeisterung des Fachgebietsleiters für archäologische Inventarisierung beim Landesamt für Denkmalpflege, ist nicht zu überhören. Da es sich um eine Siedlung der Jungsteinzeit handelt, fehlten Metallfunde. „Wir haben aber jede Menge Fragmente aus Keramik: Vorratsgefäße oder Tafelgeschirr.“ Außerdem finden sich im fruchtbaren Lössboden auch die Knochen der Tiere, die die damaligen Bauern gezüchtet haben: Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine. Und auch Haushunde streiften wohl schon durch das jungsteinzeitliche Strohgäu-Dorf, das zu seiner Blütezeit aus bis zu fünf Gehöften bestanden haben könnte.

Und plötzlich liegt da ein Skelett

Die Landwirtschaft betreibenden jungsteinzeitlichen Gerlinger pflegten auch schon überregionale Handelsbeziehungen. Gefundene Mal- und Feuersteine – aus Letzteren wurden Schneide- und Schabwerkzeuge hergestellt – stammten aus dem Nordschwarzwald, von der Schwäbischen und Fränkischen Alb sowie aus Südbaden. „Wir nähern uns mit den Funden aus Gerlingen dem Siedlungsverhalten dieser Menschen sehr weit an“, beschreibt Bollacher die Bedeutung der Ausgrabungsstätte.

Ein komplett erhaltenes Skelett eines Mannes, das dritte, das im Ausgrabungsgebiet entdeckt wurde, gibt den Archäologen bislang Rätsel auf: „Es ist möglich, das es jünger ist als die Siedlung, in der es gefunden wurde“, sagt Bollacher. Genaueres könne erst nach einer C14-Untersuchung der Knochen gesagt werden. Wie ein weibliches Skelett, das bereits bei den Voruntersuchungen 2019 zum Vorschein kam, deute auch das nun gefundene eines rund 20- bis 25 Jahre alten Mannes auf schwere körperliche Arbeit hin. „Es waren Menschen, die vom Leben gezeichnet waren“, sagt der Archäologe.

Die Auswertung wird Jahre dauern

Erst nachdem die Fundstücke geborgen, gereinigt und dokumentiert worden sind, beginnt die eigentliche wissenschaftliche Auswertungsarbeit. Diese werde mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Einen ersten Einblick gibt jedoch jetzt schon eine Ausstellung im Stadtmuseum Gerlingen, die ausgrabungsbegleitend ab kommenden Sonntag zu sehen sein wird. „Wir werden dort zahlreiche Exponate der Ausgrabung zeigen können“, sagt Bollacher. „Neben dem gefundenen Skelett auch Steingeräte, Keramikfragmente und Knochen.“

Die nun verlängerte Ausgrabung des Landesamts für Denkmalpflege entwickelt sich für die Stadt Gerlingen indes zu einer zunehmend kostspieligen Angelegenheit. Der Grund: Die Denkmalbehörde des Landes gibt zwar vor, in welchem Ausmaß Ausgrabungen erfolgen müssen. Die Kosten werden jedoch laut Gesetz den jeweiligen Kommunen aufgebürdet. Im Falle Gerlingens verteuern sich die Rettungsgrabungen, so der Erste Beigeordnete Stefan Altenberger, von ursprünglich 827 500 Euro auf kalkulierte 2,2 Millionen Euro. Bei dieser Summe müsse man „schon schlucken“, kommentiert Altenberger die Kostensteigerung.

Der Zeitplan steht

Die gute Nachricht aber ist: „Die Ausgrabungen tangieren die zeitliche Erschließung des Baugebiets Bruhweg II nicht“, sagt der stellvertretende Bürgermeister. Man könne parallel am Bebauungsplanverfahren und an der Erschließungsplanung weiterarbeiten. Eine weitere Verlängerung der Ausgrabungsarbeiten über das Jahr 2022 hinweg sei ausgeschlossen.

Die Ausstellung „Leben in Gerlingen. 5000 Jahre vor Christus“ ist von 3. April bis 22. Januar im Stadtmuseum Gerlingen zu sehen. Parallel dazu finden Führungen zur Grabungsstelle sowie ausstellungsbegleitende Veranstaltungen statt. Anmeldung zur Führung unter: stadtmuseum@gerlingen.de