Der frühere Gerlinger Bürgermeister Albrecht Sellner befasst sich seit Jahrzehnten mit Kunst. Die neueste Publikation des örtlichen Heimatvereins trägt seine Handschrift. Am Sonntag wird dazu eine Ausstellung eröffnet. Ein Gespräch über Künstler, Sport und hohe Bäume.

Das neueste Gerlinger Heimatblatt trägt unverkennbar die Handschrift von Albrecht Sellner. Im Interview erzählt der Gerlinger Ehrenbürger, wie er zur Kunst fand und was der Philosoph Arthur Schopenhauer mit Kunst im öffentlichen Raum zu tun hat. Schopenhauer sagte: „Unnütz zu sein, gehört zum Charakter der Werke der Künstler. Es ist ihr Adelsbrief. Die hohen und die schönen Bäume tragen kein Obst“.

 

Herr Sellner, welchen Künstler, welches Gemälde mögen Sie am liebsten?

Da müsste ich viele nennen, weil sie wie ein k leines historisches Nachfragewerk in Bildern von der Entwicklung der Stadt berichten. Vielleicht zeigt Bertram Konrads „Gerlingen im Jubiläumsjahr 1997“ ganz gut, was ich meine. Alles in einem, vom einst kleinen Dorf zur heutigen Größe und Bedeutung – ein Panorama in einzelnen Bildern.

Wie kam die Kunst in die Stadt?

Zuerst kam Kunst bewusst und für jedermann sichtbar durch den Bildhauer und Gerlinger Bürger Fritz von Graevenitz in die Stadt, sichtbar für jedermann in Form von Skulpturen. Zunächst in den 1950er-Jahren mit dem Löwen auf dem Schlossberg, als Symbol für den Frieden in der Welt nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg. Weitere Skulpturen folgten nach und nach. Als Zweiten nenne ich den international bekannten Bildhauer Jürgen Goertz mit dem Schillerbrunnen. Diese Skulptur hat die ganze Familie Schiller zum Inhalt, die in den Jahren von 1775 bis 1796 auf der Solitude gelebt hatte. Das Schloss und die ganze Umgebung waren damals noch Gerlinger Markung, ehe es die Nazis 1942 nach Stuttgart zwangseingemeindet hatten. Daher firmiert Gerlingen auch als „Heimat der Familie Schiller“.

Welche Bedeutung haben aus Sicht des ehemaligen Bürgermeisters die Gerlinger Heimatblätter im Allgemeinen, die aktuelle Ausgabe im Besonderen?

Unsere Heimatblätter haben eine große Bedeutung für das Geschichtsbewusstsein unserer Bürger. Fast alles, was Gerlingen heute ausmacht, wurde in den 15 bisher erschienenen Heimatblättern sachkundig und gut lesbar beschrieben. Das neueste Heimatblatt „Künstlerheimat Gerlingen“ zeigt die Entwicklung unserer Stadt in den vergangenen 150 Jahren anhand von Bildern sehr anschaulich. Es ist ebenso für die eigene Standortbestimmung wie für die Entwicklung einer Stadt wichtig, dass man sich immer mal wieder darauf besinnt, wo man herkommt. Das ist auch der Grund, weshalb wir im neuen Heimatblatt den Wandel der Zeit durch Bilder sichtbar und erlebbar machen.

Wie kam es nun zu der Ausgabe „Künstlerheimat Gerlingen“?

Weil ich mich seit fast 60 Jahren intensiv mit Kunst beschäftige, im In- und Ausland einige Hundert Kunstvorträge gehalten habe, davon mehr als 90 im Gerlinger Rathaus, bat mich der Vorsitzende des Heimatpflegevereins, Jürgen Wöhler, dieses Heimatblatt zu erarbeiten. Die Idee dazu kam von ihm. Und weil ich seit 86 Jahren, nur unterbrochen durch mein Jurastudium, in Gerlingen lebe, habe ich die Entwicklung samt allen Veränderungen hautnah miterlebt und durch meine kommunalpolitischen Tätigkeiten zum Teil mitbestimmt. Dies alles in Bildern von bekannten und bedeutenden Künstlern wie von begabten Laienmalern zu zeigen, dieser Bitte des Heimatpflegevereins habe ich gern entsprochen. Zudem kannte ich fast alle der in der Publikation vertretenen Künstlern persönlich.

Was zeichnet diese Künstler aus?

In erster Linie die Liebe zu ihrer Heimat. Sie selbst und ihre Werke haben in je eigener Formulierung und Handschrift die Attraktivität des Ortes samt der schönen Umgebung in ihren Bildern eingefangen.

Die Gerlinger Kunstszene ist ihrer Meinung nach so lebendig, dass das aktuelle Heimatblatt nur eine Auswahl zeigen könne – wie wurden die Werke ausgewählt?

Die lebendige und produktive Kunstszene in Gerlingen gibt es seit mehr als hundert Jahren. Der Umfang des Heimatblattes war von Anfang an begrenzt. Daher konnten wir von zahlreichen Künstlern nur ein Werk auswählen. Die Auswahl selbst war subjektiv. Wir mussten zudem nach Originalität gerade für das Thema Wandel der Zeit auswählen. Mit weiteren Bildern der meisten Künstler könnten wir leicht ein zweites Heimatblatt füllen. Außerdem haben wir uns auf Bilder beschränkt, die in der Kunstsammlung der Stadt Gerlingen vorhanden sind, mit ganz wenigen Ausnahmen. Ich konnte einige für das Thema interessante Bilder aus Privatbesitz als Leihgaben besorgen.

Sie vermitteln die Kunst seit Jahrzehnten. Was fasziniert Sie daran?

Als junger Jurastudent bin ich vor mehr als 60 Jahren durch Zufall einigen bekannten und zum Teil weltbekannten Künstlern persönlich begegnet. Diese Begegnungen haben mir die Bedeutung von Kunst, auch für unsere Gesellschaft, vor Augen geführt. Ich war fasziniert und bin es heute noch, bin heute noch neugierig auf Neues wie schon damals.

Sie zitieren den Philosophen Arthur Schopenhauer und kommen zum Schluss, der Mensch brauche die „hohen und schönen Bäume wie die Luft zum Atmen“. Gilt das auch – oder gerade – im öffentlichen Raum, in Zeiten knapper Kassen und politischer Unruhe?

Ja, die Kunst, auch Literatur und Musik, kann die Sinne schärfen für Dinge, die außerhalb des täglichen beruflichen und wirtschaftlichen Handelns und Denkens liegen. Das zeigt zum Beispiel, wie das Interesse an Kunst nach der Nazi-Diktatur vor 77 Jahren plötzlich und fast explosionsartig gestiegen ist. Gute Kunst und kulturelle Entwicklung kann nur in einer freiheitlichen Gesellschaft entstehen. Daher ist es auch für die Menschen in der Ukraine so wichtig, die verbrecherische Invasion der Russen mithilfe der westlichen Staatengemeinschaft zu stoppen. Im Übrigen ist gutes künstlerisches Erleben in der Regel nicht von Geld abhängig, genauso wie man guten Sport nicht nur an den Wenigen mit ihren Millionenbeträgen erleben kann.

Das Gespräch führten Stefanie Köhler und Franziska Kleiner

Kunst in Gerlingen

Der Autor
Albrecht Sellner war Erster Beigeordneter in Gerlingen, ehe er 1983 Bürgermeister der Stadt wurde. Er hatte das Amt 16 Jahre inne. Der heute 86-Jährige wurde 2015 zum Gerlinger Ehrenbürger ernannt.

Die Ausstellung
Die Vernissage am Sonntag, 15. Mai, ist im Sitzungssaal des Gerlinger Rathauses. Sie ist bis zum 31. Juli zu den Öffnungszeiten des Rathauses zu sehen. Die Publikation „Künstlerheimat Gerlingen“ aus der Reihe Gerlinger Heimatblätter (76 Seiten, fünf Euro) gibt es im Stadtarchiv und in der örtlichen Buchhandlung.