Stadträte im 12. und 13. Jahrhundert waren es, die die Grundlage für den modernen Verwaltungsstaat gelegt haben. Städte wie Weil der Stadt sind damit die Wiege für Selbstverwaltung und Demokratie.

Weil der Stadt - Geld war in Weil der Stadt schon immer knapp. Mitte Februar 1793 ist die Lage wieder einmal so prekär, dass es richtig knallt. Anton Gall, der bis vor zwei Jahren Bürgermeister war, hatte das Finanzproblem nämlich kurzerhand selbst gelöst und der Stadtkasse einen Kredit aus eigener Tasche gewährt. Und jetzt, in jenen Februar-Wintermonaten, kommt Galls Sohn Johannes Baptist daher, und will den Kredit von 20 000 Gulden kündigen, falls die Rückzahlung der fälligen Rate nicht noch im gleichen Jahr komme.

 

Eine Katastrophe! Weil der Stadt ist ohnehin arm, und die Beteiligungen an den Kriegen gegen das revolutionäre Frankreich belasten den Stadtsäckel zusätzlich. Aber wo Not ist, sind die Menschen kreativ. Am Ende dieses Konflikts, zwei Jahre später, hat sich Weil der Stadt eine der modernsten Verfassungen gegeben. Fast demokratisch ist, was sich die Weiler erarbeitet haben. In zehn Wahlzünfte teilte man die Stadt ein, die je drei bürgerliche Stellvertreter zu wählen hatten, die wiederum aus ihrer Mitte zehn Gemeinderäte wählten.

Seit Jahrhunderten sind Stadträte schon kleine Geburtsstätten und Labore für gelebte Zusammenarbeit und Gemeinschaft, für Demokratie. Auch 1795. „Der Weiler Bürgerausschuss hat das vorgemacht, worum man in Nürnberg oder Frankfurt – übrigens vergeblich – in blutigen Fehden zwischen Bürgerschaft und Magistrat gekämpft hat“, jubilierte der frühere Stuttgarter Landesgeschichts-Professor Otto Borst, der in dem Dokument einen Vorläufer der württembergischen Gemeindeverfassung vermutet.

Ein kleines Bundesland wie Berlin und Bremen

Wirklich zur Geltung kommt die Weiler Verfassung von 1795 leider nicht mehr. Acht Jahre später verliert die Stadt ihre Selbstständigkeit, wurde württembergisch. Bis dahin aber war Weil der Stadt eine Reichsstadt, quasi ein kleines Bundesland, wie heute noch Berlin, Hamburg und Bremen.

Herr der Stadt ist nur der Kaiser. Der aber sitzt in Wien, weit weg. Und hat wenig zu sagen. Denn die Eliten in Rat und Magistrat entscheiden über ihre Städte selbst. Wenn am Sonntag die Stadträte gewählt werden, dann deshalb, weil sich ihre Vorgänger das hart erkämpft haben. „Städtische Revolution“ nennen Historiker diese Entwicklung ganz am Anfang dieser Verfassungsgeschichte.

Im 11. und 12. Jahrhundert wandeln sich die Städte. Sie wachsen schnell und die Bürger spezialisieren sich, werden Handwerker oder Händler. Oberhaupt der Städte sind der König oder ein Bischof. Deren Angestellte, die Verwalter, Kämmerer und Truchsessen, haben aber Ambitionen. Frei wollen sie sein, nicht Untergebene des Stadtherrn. Das gelingt in vielen Städten, die fortan frei sind. Erstmals seit der Antike wird eine städtische Elite wieder zu historischen Akteuren, die seither und bis heute Gesellschaft, Wirtschaft und Politik unseres Kontinents mitgestaltet.

Die städtische Revolution prägt das Gesicht Europas

Nicht der König, nicht der Papst, nein: „Die städtische Revolution des 11. und 12. Jahrhunderts hat das Gesicht Europas geprägt“, schreibt der Tübinger Mittelalter-Professor Steffen Patzold. Vorreiter ist Worms. Am 30. November 1114 trifft dort etwas Merkwürdiges ein. Kaiser Heinrich V. stellt der Stadt eine Urkunde aus. Empfänger aber ist nicht der Wormser Bischof, der eigentlich das traditionelle Oberhaupt der Stadt war, sondern die Bürger der Stadt selbst! Der Kaiser gewährt den Bürgern zum Beispiel das Recht, Ehen frei zu schließen und dem Ehepartner ihr Erbgut zu hinterlassen, also ohne Einfluss des Bischofs. Bedeutendes hatte sich also getan: Die Bürger von Worms als Kollektiv waren so gut organisiert und so würdig, dass sie gemeinsam eine Urkunde des Königs empfangen konnten. Aus Worms stammt das älteste Dokument dieser Art in Deutschland, was fortan Schule macht.

Freiheit will man schließlich auch in Weil der Stadt. Direkt dem Kaiser unterstellt, nicht mehr dem Landesfürsten, war die kleine schwäbische Stadt im Heckengäu schon seit 1273. Vertreter des Kaisers in der Stadt war der „Schultheiß“, was vom althochdeutschen sculd („Verpflichtung zu einer Leistung“) und heizo („der Befehlende“) kommt. Bis um 1350 hatten Mitglieder der alten Weiler Familie von Wile (auch Kirchherr, Kröwelsau oder Rothe genannt) dieses Amt inne.

„Das älteste wahrhaft staatliche Gemeinwesen in Deutschland“

Der Schultheiß in Weil der Stadt war Vorsitzender eines Gerichtskollegiums mit zwölf Geschorenen, den iurati, wie sie in einer historischen Quelle heißen. Ein Gremium war damit gegeben, und daraus entwickelt sich denn auch eine Dynamik, die dem Kaiser gar nicht recht gewesen sein dürfte. 1291 taucht zum ersten Mal der Begriff der consules auf. Ein Rat war damit geboren, der sich zum Teil vom Gerichtskollegium abspaltete.

Freiheit gab es aber noch keine, denn der Schultheiß war ja ein Beamter des Kaisers. Um 1350 verdrängten die Ratsleute den Schultheißen aus seiner Position und setzen ihren eigenen Obmann an die Spitze von Weil der Stadt: den „Bürgermeister“. Wie Worms gelingt es auch Weil der Stadt, dem Kaiser weitere Rechte abzuringen, etwa die Steuerhoheit. Die Weil der Städter hatten zum Beispiel das Zoll- und Jagdrecht und waren von der Rechtsprechung auswärtiger Gerichte befreit.

„Dadurch wollten sie verhindern, dass der Kaiser diese Rechte an die Landesfürsten verpfändete“, sagt der Heimatforscher Wolfgang Schütz, der diese historischen Vorgänge für Weil der Stadt zusammengetragen hat. „Auch der Rat von Weil konnte seine Herrschaftsgewalt durch den Erwerb von sogenannten Regalien stärken.“ Abgeschlossen war der Prozess hin zur Selbstständigkeit 1404, als die Stadt das Schultheißenamt kurzerhand dem König Wenzel abkauft. Weil der Stadt unterstand damit zwar immer noch dem König, dem Schutzherrn der Stadt. Stellvertreter des Königs in der Stadt war aber der Stadtrat, der alle Geschicke bestimmte.

Stadtrat auf Lebenszeit

Demokratisch gewählt ist der Stadtrat gewiss nicht. Wird ein Platz frei, bestimmt man aus einem kleinen Kreis ratsfähiger Geschlechter selbst einen Nachfolger. Dieser bleibt dann Stadtrat auf Lebenszeit. Eine einzige, sich die Vormacht sichernde Familie gibt es dennoch nicht, wie etwa in den großen, reichen Reichsstädten Hall, Ulm oder Nürnberg. „Weil, das kleine Weil, wird zu einem seltenen Exempel genossenschaftlich-demokratischer Stadtregierung, ein Stück ausgewogene, in gegenseitiger Kontrolle aufgefangene Selbstverwaltung“, stellt Otto Borst in seinen pathetischen Schriften fest.

Zusammensitzen, diskutieren, abstimmen, Beschlüsse fassen, und anschließend nach der Umsetzung der Beschlüsse schauen. An der Spitze sitzt der Vorsitzende, der die Sitzung leitet. Eben das politische Modell einer kollektiven Regierung. Heute tun das nicht nur Gemeinderäte, sondern auch Kreistage und Regierungskabinette in Land, Bund und EU. Was heute so banal und selbstverständlich klingt, ist dennoch Ergebnis eines historischen Prozesses, der entstehen und sich entwickeln musste.

„Treibhaus des modernen Verwaltungsstaates“

Und der hat eben seinen Ursprung in den Rathäusern der Städte des 11., 12. und 13. Jahrhunderts. Die mittelalterliche Stadt ist das „älteste wahrhaft staatliche Gemeinwesen in Deutschland“, wusste daher schon der große Rechtshistoriker Otto von Gierke (1841 bis 1921). Sein Kollege Wilhelm Ebel (1908 bis 1980) fand in der mittelalterlichen Stadt ein „Treibhaus des modernen Verwaltungsstaates“.

Wie das funktioniert, zeigt Weil der Stadt auch an jenem 28. Juli 1795. Die neue Verfassung ist fertig und wird der gesamten Bürgerschaft verlesen. „Wer ist gegen die neue Verfassung?“, wird gefragt. Niemand erhebt Einspruch, also wird mitgeteilt, dass man dieses Schweigen als Zustimmung wertet. Anschließend unterschreiben der Chirurgus Maximilian Reichle, der Metzger Reichard Schöninger, der Baumwirt Joseph Gall, der Schlosser Joseph Rothacker, der Schreiner Franz Schöninger und der Gerber Dagobert Gall. Sie unterschreiben nicht für sich, nicht im Namen eines Kaisers oder Gottes, sie unterschreiben im Namen der gesamten Bürgerschaft.

Wenn heute also Angela Merkel mit ihrem Ministerkreis nicht im Namen Gottes, sondern im Namen der Bürgerschaft handelt, dann tut sie das auch, weil das Modell gelebter Demokratie in den Städten des Mittelalters und der Neuzeit entwickelt wurde, weil es von den Stadträten ersonnen und erprobt wurde. Die am Sonntag neu gewählten Stadträte können daraus Selbstbewusstsein schöpfen.