Die Ausstellung „All the world’s a frame“ von Johanna Reich ist eröffnet.

Leonberg - Barack Obama sitzt in resignierter Haltung mit baumelnden Beinen auf dem Schreibtisch in seinem Oval Office: Er muss zusehen, wie das, wofür er eingetreten ist, verschwindet, und ein neuer scharfer Wind im Weißen Haus wehen wird. Das Bild ist eines von mehreren, die zeitgeschichtliche Ereignisse wie in einem Brennglas zeigen, ausgesucht von Menschen, die ein auch für sie persönlich bedeutendes Ereignis nennen sollten. Das Besondere an dem Bild von Obama: Es ist auf eine dunkle Nylon-Fahne im Format 300 x 150 Zentimeter – stabil und zart zugleich – projiziert, und man sieht eine Hand desjenigen, der das Bild ausgewählt hat.

 

Eva Ott, die Vorsitzende des Galerievereins, bedankt sich in ihrer Begrüßung deshalb ausdrücklich bei Jürgen Klopsch und Günther Fauth, die ihr mit Sachverstand und Kreativität viele Stunden beim Aufbau der Ausstellung geholfen haben.

Ereignisse, eingebrannt im kollektiven Gedächtnis

„Was hat sich für Sie ins Gedächtnis eingebrannt – und was bedeutet das für Sie persönlich?“ war die Leitfrage von Johanna Reich (Jahrgang 1977), deren Ausstellung „All the world’s a frame“ am Sonntagvormittag in einer Vernissage im Galerieverein eröffnet worden ist, und die ihre Werke persönlich kommentiert.

Die kluge und sensible Künstlerin will eine Vorstellung davon vermitteln, wie „Geschichte“ im Leben des Einzelnen ankommt und was das – zumal im Zeitalter der Digitalisierung, von Fake News und Postfaktischem – mit ihm macht.

Es sind Ereignisse, die sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben: Mauerbau, Mondlandung, Fall der Mauer, 9/11 – und auch das verschwundene Fernseh-Testbild, an das sich einer erinnert, weil er als Kind davor saß und eine gefühlte Ewigkeit auf den Beginn des Kinderprogramms gewartet hat.

„Geschichtsbilder mit Haltung“

Es sind „Geschichtsbilder mit Haltung“, erklärt die Künstlerin - und es sind bewusst Hände auf und in die Bilder hineinprojiziert: Mit den Händen be-greift der Mensch die Welt, sie liegt „in seiner Hand“, und unser Kulturbegriff geht ja auf „cultura“ zurück (Bearbeitung, Pflege, Ackerbau).

Johanna Reich verknüpft einen philosophischen mit einem technischen Ansatz unter der Leitfrage: Was machen wir in der Welt der Digitalisierung, und was macht sie mit uns?

Als der Konservative Arnold Gehlen 1957 seine sozialpsychologische Untersuchung „Die Seele im technischen Zeitalter“ veröffentlicht hat, konnte er nicht ahnen, dass seine Diagnose, „an die Stelle unmittelbaren Erlebens treten Erfahrungen aus zweiter Hand“, die meist über die Massenmedien vermittelt werden, heute um ein Vielfaches übertroffen wird.

Die Seele im digitalen Zeitalter

Und wie geht es der „Seele im digitalen Zeitalter?“ Der Historiker Yuval Noah Harari zeigt in seinem aktuellen Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ (2018), „wie eng die Verbindungen zwischen den großen Umwälzungen unserer Zeit und dem Innenleben des Einzelnen sind“. Und es gehöre zur historischen Dialektik, dass ein von den meisten gefeiertes Ereignis wie der Mauerfall von manchen Betroffenen als persönliche Katastrophe, als „Bruch“ im Leben und in der Lebensperspektive erfahren werde – wie bei der Frau, die das Mauerfall-Foto ausgewählt hat.

Das Thema „Verschwinden – Auftauchen“ kehrt in anderen Werken wieder: Es verschwindet nicht nur das Testbild, es verschwinden auch Gegenstände, wie Fotoapparat oder Wecker – und sogar die Handschrift ist inzwischen auf dem Rückzug.

Dass auch Menschen einfach so aus dem Gedächtnis verschwinden, zeigen 140 kleinformatige Polaroid-Fotos von Künstlerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts samt Wikipedia-Biografien, nur 5x3 Zentimeter groß („Resurface“): Sie dokumentieren das Verdrängen der Frauen aus der Kunst: verschwiegen, verschwunden, verbannt - und ihr „Auftauchen“ mithilfe der Digitalisierung. Diese Ambivalenz der technologischen Entwicklung als Bedrohung und Chance zugleich zeigt auch das Werk „Phoenix“: Man sieht in einem Video, wie sie in schwarzem Kapuzenumhang malt: Es entsteht ein Feuer, und sie steigt in die Flammen. „Man kann etwas in Brand setzen, aber es entsteht auch etwas Neues“, erläutert sie. Eben wie Phönix aus der Asche.

Auch auf Bildern sieht man sie einen Moment – wie Alfred Hitchcock in seinen Filmen – und schon ist sie verschwunden.

Schüler als Künstler

Besonders berührend sind die Arbeiten im Erdgeschoss zum Thema „Resistance“: Die Künstlerin geht in Schulen, nicht nur elitäre Kunst-Gymnasien, und macht gemeinsam mit den Jugendlichen Projekte. Zum Thema „Macht und Widerstand“ suchen die Schüler Personen aus, von denen sie besonders beeindruckt sind: Martin Luther King, Oskar Schindler, Anne Frank oder Rosa Luxemburg. Die Fotos werden auf die Schüler projiziert in einer Pose eigener Wahl und die Personen „verschmelzen“ miteinander: Geschichte unter der Haut.

Wenn wir angeblich wichtigere Dinge zu tun haben, als über das große Ganze nachzudenken – arbeiten, Kinder erziehen, die alten Eltern pflegen – „wird über die Zukunft der Menschheit in unserer Abwesenheit entschieden“, warnt Harari.

„All world’s a frame“, die ganze Welt ist ein Rahmen – wie sie nach Shakespeare auch eine Bühne ist, auf der wir die Akteure sind: Der Zustand der Welt hängt von jedem Einzelnen ab. Statisten gibt es nicht.

So lange läuft die Ausstellung noch