Die SpVgg Renningen kennt sich aus mit Gruppengucken bei einer Fußball-WM – zum WM-Start der deutschen Mannschaft kommen am Nachmittag gut 80 Fans, einige erleben ein schreckliches Déjà-vu.

Sport: Jürgen Kemmner (jük)

Zum ersten Mal zucken die deutschen Fans zusammen und stöhnen, als die Polizei den Raum betritt – nicht weil die WM-Gucker was Verbotenes getan hätten, sondern weil die Japaner das vermeintliche 1:0 erzielt haben. Das Tor wird wegen Abseits zurückgenommen, und die Beamten wollten sich nur vergewissern, dass alles passt beim Public Viewing bei den Fußballern der SV Renningen am Mittwoch. Zum kleinen Erschrecken taugen deutsche Polizeibeamte, für das wirkliche Schaudern sind zwei japanische Fußball-Profis zuständig. Ritsu Doan und Takuma Asano verderben den gut 80 Fans am Renninger Sportgelände die Party. „Nicht schon wieder so wie 2018“, stöhnt Louis Gerken, der zu den Organisatoren gehört. Vor vier Jahren war das deutsche Team nach der Gruppenphase sang- und klanglos ausgeschieden.

 

Die Fußballer des Clubs veranstalten seit der EM 2012 ein Rudelgucken in ihrem Fußball-Wohnzimmer, der im Kneipenstil eingerichteten ehemaligen Renninger Bushaltestelle – ein großer TV-Schirm sowie zwei kleine zeigen die Kicker in Katar, im zweiten Raum, einer Art beheiztem Zelt flimmern die Großbildleinwand und ein stattlicher LCD-Bildschirm. „Das alles hat sich von Event zu Event weiterentwickelt und verbessert“, erzählt Gerken vor dem Anpfiff. Er und einige der Fußball-Kollegen haben sich freigenommen, um am Nachmittag die insgesamt acht Leute an der Bar und am Verkaufsstand zu unterstützen, aber vor allem um Fußball-WM zu schauen. „Wir hätten nicht gedacht, dass so viele Fans kommen“, bekennt Felix Dietrich von der Fußballabteilung.

Eigentlich beginnt die Veranstaltung zur Unzeit für Berufstätige um 14 Uhr. In der alten, ordentlich warmen Bushalle fiebern Fans zwischen 20 und 50 Jahren, im kühleren Zelt sitzen die Kinder links der Leinwand und werden flankiert von einer neunköpfigen Rentnertruppe, die irgendwie zum Inventar der SVR gehört. Links Pommes und Panini-Album, rechts Bier und Bruddeln. Zumindest gelegentlich. Als Ilkay Gündogan per Elfmeter das 1:0 für Deutschland erzielt, jubeln die Kids ausgelassen und laut, die älteren Herrschaften freuen sich mehr nach innen. „Gegen Japan sollte man gewinnen“, sagt einer, „aber das hat man von Argentinien gegen Saudi-Arabien auch geglaubt. Und die haben 1:2 verloren.“ Der Mann hatte in diesem Moment eine Eingabe von wahrhaft prophetischer Natur – doch das kann zu diesem Zeitpunkt noch keiner ahnen. Mit 1:0 geht’s in die Pause, zur Halbzeitwurst samt dezentraler Spielanalyse.

Die gleiche Prozedur wie beim „Dinner for one“

Die SVR-Kicker hatten nicht lange diskutiert, ob sie die Veranstaltung wie bei den Fußball-Großevents zuvor durchziehen sollten, auch wenn die Vorzeichen ganz andere sind als in den Jahren seit 2012. Eine WM in der Adventszeit statt im Hochsommer, eine WM in einem Land, in dem Fußball keine Tradition besitzt, eine WM in einem Rechtssystem, das Menschenrechte mit Füßen tritt. Einige Kneipen in der Region Stuttgart boykottieren dieses Turnier, die Renninger aber hatten sich entschieden, es zu machen wie Miss Sophie an ihrem 90. Geburtstag beim „Dinner for one“: Die gleiche Prozedur wir immer! „Es ist aus meiner Sicht“, betont Louis Gerken, „ein deutlicher Unterschied, ob eine Sportsbar oder ein Fußball-Club ein Public Viewing anbietet.“

Immerhin: Die Atmosphäre in der alten Wartehalle kann sich gut mit einer Sportsbar messen, wenngleich nur ein Pärchen in Fanmontur mit schwarz-rot-goldener Hawaii-Halskette im Fußballpulk steht und Deutschland-Trikots in der Minderheit sind. Mittwochnachmittag trägt der Fan zivil – und der wird nervös, als Gündogan nur den Außenpfosten trifft, als Jonas Hofmann und Serge Gnabry das 2:0 verpassen. Das Unheil kündigt sich an wie ein Gewitter: Als das 1:1 durch Doan fällt, kreischen die Frauen verzweifelt und die Männer kramen die Flüche hervor, die sie immer loslassen, wenn es im Fußball nicht so läuft wie gewünscht. Und als die Japaner dem Favoriten mit dem 2:1 eine ziemlich lange Nase drehen, herrscht nicht nur in Renningen blankes Entsetzen, sondern in ganz Deutschland. „Der Hummels hätte den Japaner noch abgegrätscht“, sagt einer. Aber Mats Hummels ist nicht dabei.

Ein Best-of der Fußball-Kommentare

Die Nachspielzeit ist garniert mit einem Best-of der Fußball-Kommentare – von „ich fass’ es nicht“ über „um Gottes Willen“ und „zum Verzweifeln“ bis hin zu „ich könnte ausrasten“. Louis Gerken liefert das Fazit: „Nicht schon wieder wie 2018.“

An der Wand hinter der Bar stehen sechs Flaschen Champagner. Wenn die WM für Deutschland wirklich so läuft wie die vor vier Jahren, dann werden sie dieses Turnier wahrscheinlich unbeschadet überstehen.