Für die Rutesheimerin Annelies Schermaul, die jüngst ihren 96. Geburtstag gefeiert hat, wohnt Weihnachten ein besonderer Zauber inne.

Rutesheim - Ein Zauberglanz liegt auf dem Wort Weihnachten, ein Glanz, der mich ein Leben lang begleitet hat. Sei es in der Kindheit, in den Jugendjahren, in trauter Umgebung oder in schrecklichen, kriegerischen Zeiten, in Not und Elend. Immer wieder leuchteten der Stern und die Krippe.

 

Ich werde noch kein Schulkind gewesen sein, als ich bewusst dieses Fest im Kreise der Familie erlebte. In einem richtigen Bauerndorf aufgewachsen, gab es in damaligen Zeiten wenig Veranstaltungen oder besondere Ablenkungen. Waren alle bäuerlichen Arbeiten auf den großen Bauernhöfen im Herbst verrichtet, erwarteten wir den Schnee, der die Häuser und Höfe umhüllte und die winterliche Ruhe einkehren ließ. Mit ihm kamen die Vorboten der Weihnachtszeit, St. Kathrin, St. Andreas, St. Barbara, der Hl. Nikolaus. Weihnachtliche Vorfreude breitete sich aus. Der Christbaum wurde vom Vater im Bauernwald geschlagen, die Christbrote im Haus gebacken.

Erstes Weihnachtsbild der Erinnerung

Geschmückter Christbaum, duftendes Gebäck, Eltern und Großvater, Stille, Schnee, Kirchgang.

Ein zweites Bild

Weihnachten in der Dorfschule. Alle acht Schuljahre in einem Klassenraum versammelt, großer, strahlender Weihnachtsbaum, Lehrer mit der Geige, die singenden Kinder begleitend, selbst gebastelter Baumschmuck, andachtsvolle Erwartung. Der Blick aus den Fenstern über die verschneiten Dächer hinüber zum Hausberg Jeschken. Mit kleinen Geschenken (Schal, Handschuhe, Socken, Pudelmütze, Äpfel und Nüsse) durch den Schnee stampfend in die warmen Stuben. Glücklicher Tag im Schulleben.

Foto: privat
Diese Bilder, dieses weihnachtliche Geschehen, begleiteten uns durch die Kindheit ins jugendliche Alter. Das politische Leben hatte sich verändert, andere Lieder, hinweisend auf ein Deutschtum, kamen dazu. Hohe Nacht der klaren Sterne, Weihnachtszeit kommt nun heran. Es war für uns und viele andere eine Zeit angekommen, bald war wieder Weihnachtszeit. Wir sangen mit Freuden. Das Lied von der Stillen heiligen Nacht blieb über alle Grenzen bestehen.

Weihnachten im Krieg

Kriegsweihnacht

Es kamen die ersten Todesnachrichten, Verluste in der Nachbarschaft, Freunde, Verwandte, alles wurde grau und düster, hoffnungslos. Schwer ging die heimelige Weihnachtszeit von uns. Woran konnte man denn noch glauben? An einen Sieg? Krieg in der ganzen Welt, Weihnacht und Heiliger Abend bei Freund und Feind. Alle wollten Weihnachtsfrieden, vielleicht ruhten die Waffen in der Heiligen Nacht? Aber der Krieg ging weiter.

Mein letzter Weihnachtsbesuch 1944 im Elternhaus

Es war kalt und dunkel im Zug. Auf der zweistündigen Fahrt konnte man die Mitreisenden nur als Schattenbilder erkennen. Erst beim Aussteigen in der Stadt konnte ich sehen, dass Soldaten und Verwundete dabei waren. Dann ging ich allein durch dunkles, verschneites Land in mein Heimatdorf.

Kein Lichterschein begleitete mich, keine Laterne, alle Häuser verdunkelt, kein feindliches Flugzeug sollte etwas erkennen, kein Mensch weit und breit. So stapfte ich allein und sehr traurig durch das geliebte Land, suchte auf der letzten Anhöhe, dem Quorkberg, vergeblich nach einem Lichtschein im Heimatdorf. In der warmen Schneiderstube wurde ich erwartet. Der Vater saß an der Nähmaschine, die Mutter schürte ununterbrochen Tannennadeln in die Glut des Herdes und backte die bescheidenen Christbrote. Mehl, etwas Butter, Zucker und Eier gab es auf dem Dorf noch, man hatte ja auch Lebensmittelkarten und Hühner.

Auf dem Tisch lag der letzte Brief aus Stalingrad, der lungenkranke Bruder sehnte sich nach einem Weihnachtsgruß. Das Päckchen an ihn war zurückgekommen, er lebte sicher schon nicht mehr. Die wenigen Kirchenbesucher froren und zitterten. Keiner ahnte, dass es das letzte Weihnachten in der Heimat sein würde.

Der Krieg ist zuende

Kriegsende, Weihnachten 1945

Vertrieben aus der Heimat, allein im Hungerwinter der Stadt Oldenburg. Es hatte geschneit, doch es gab nur Matsch und Wasser in den ImmeStraßen, keine verschneiten Höhen weit und breit. Wo finde ich, wo findet die Menschheit Weihnachtsfrieden? Die alte Tante Dora hatte mir, dem zugelaufenen Flüchtlingsmädchen, ein Weihnachtsbäumchen geschmückt. Es stand auf einem Tisch neben meinem Bett. Ich konnte im Dunkeln die Silberfäden erkennen. Ich war untröstlich und hatte Heimweh nach allem, was einmal war, ohne Hoffnung auf eine Zukunft.

Weihnachten 1946, Flüchtlingsstube im Schwabenland

Vater, Mutter, zwei Töchter wieder vereint in innerer Freude. Wohl war alles verändert. Die Brüder, Verwandte, Freunde fehlten, ihre Aufenthaltsorte waren unbekannt. In unserem Heimatdorf, einem Waldhufendorf, lagen die Häuser und Höfe weit verstreut. Der neue Heimatort: ein Haufendorf. Häuser dicht beieinander, wenig Schnee, keine Vorboten der Weihnachtszeit, im pietistischen Ort unbekannt. Unsere Gedanken weilten in früheren Zeiten. Zu später Stunde ein Geräusch im Treppenhaus.

Ein Korb, gefüllt mit Köstlichkeiten damaliger Zeit stand vor der Tür. Das Christkind war da, konnten wir lesen. Es hatte uns im fremden Land gefunden. Da nahm die Mutter die alte Flüchtlingslaterne und lief allein auf dunkler Straße sechs Kilometer nach Leonberg in das kleine katholische Kirchlein zur Mitternachtsmesse. Sie wollte es so. Den Segen der Heiligen Nacht brachte sie uns, den einzig Verbliebenen.

Eine eigenen Familie und Kinder

Die Jahre vergingen, das Leben veränderte sich. Wir Jungen gründeten Familien, die Eltern hielten die Enkelkinder in den Armen. Da brach in der Advents- und Weihnachtszeit das alte Brauchtum wieder hervor. Sankt Kathrin warf Nüsse und Äpfel in die Wohnzimmer, der Nikolaus zeigte sich anfangs sehr behutsam in unserer Mitte, wurde aber immer bekannter. Und dann holten wir sogar einen echten Bischof von Myra in unsere Gemeinde. Auch er hat den Weg hierher gefunden und ist geblieben.

Die Weihnachtszeit, der Christabend mit der Heiligen Nacht, es wurde Jahr um Jahr schöner. Wir, die Eltern, erzählten unseren Kindern aus der Vergangenheit und verbanden das Alte mit Neuem. In den Nachmittagsstunden des Heiligen Abends besuchten wir ältere Leute und Freunde, entzündeten Lichter auf den Gräbern, dachten an die Verstorbenen und an die Kriegstoten, die auf unserem Friedhof ruhen. Es waren Freunde meines lieben Mannes dabei. Erst dann begann die Feier des Heiligen Abends bei uns.

Der reichlich geschmückte Christbaum konnte nicht groß genug sein. Wir sangen, musizierten, spielten und warteten auf die Zeit, bis wir den Weg in die Mitternachtsmesse der neu erbauten Kirche der Gemeinde gehen konnten. Vater, Mutter und Tochter sangen im Chor auf der Empore, der Sohn stand als Ministrant am Altar. Die Familie verbrachte die Heilige Nacht im Wohnzimmer. Nahe beieinander, damit keine Stunde dieser gesegneten Nacht verloren ging.

Die Kinder werden erwachsen

Die Kinder fliegen aus, gründen Familien, die Eltern sind allein

Die Kinder sollten nun in ihren Familien die Gestaltung des Festes selbst übernehmen, also kamen die Eltern, bald Großeltern, zu ihnen. Und so geschah es auch bis zum heutigen Tag. Das Brauchtum von mehr als hundert Jahren ist verankert und wird mit neuem Leben gefüllt. Als mein lieber Mann schon sehr alt war, entwickelte sich im Auto des ältesten Enkels am Heiligen Abend auf der Fahrt zur Familie folgendes Gespräch. Die damals knapp dreijährige Urenkelin, begann: „Der alte Elefant in der Wilhelma ist gestorben und wohnt jetzt beim Nikolaus und den Engelein da oben. Opa, du bist auch schon alt und wirst bald sterben. Dann kommst du auch zu dem Nikolaus und den Engelein da oben.“

Weihnachten ohne den Mann

Genau an ihrem dritten Geburtstag verließ uns der Opa. Immer am Heiligen Abend holen sie mich zur Familienfeier ab. Dann führt uns der Weg zuerst zum Opa auf den Friedhof. Er ist da oben, muss aber stets Wasser auf das weihnachtlich geschmückte Grab bekommen, damit er nicht verdurstet.

Schön ist dann die Weihnachtsfeier in der Großfamilie. Nun musizieren bereits die Urenkel, und ich freue mich immer, wenn die dazugekommenen Schwiegerenkel mit ihren kräftigen Stimmen die lieben, alten Weihnachtslieder singen. Da kann ich schnell wieder Kind sein und mit Eltern und Großeltern unterm Christbaum stehen.

Das Jahr 2020

Weihnachten im Zeichen der Pandemie im Jahr 2020

Hätte irgendjemand daran gedacht, dass böse Viren eines Tages alle Länder überfallen und noch einmal Angst und Schrecken verbreiten würden? Sie haben es geschafft, und noch einmal wird das Weihnachtsfest ganz anders sein. Es gleicht etwas der Nachkriegszeit.

Wohl braucht man nicht zu hungern, die meisten werden ein schützendes Dach über dem Kopf haben, aber viele keine menschliche Nähe. Wird es ein kleines Fest unter dem Christbaum geben? Darf ich Kinder, Enkel und Urenkel besuchen, mit ihnen singen und fröhlich sein?

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Wahrscheinlich werden wir digital verbunden sein und so die Großfamilie treffen. Traurig besonders für uns Alte. Und doch wollen wir hoffen, dass wir gesund bleiben und den Heiligabend in vertrauter Umgebung feiern können. Als Risikopatientin im nahen Krankenhaus sein zu müssen, wäre jedoch um ein Vielfaches schlimmer.

Trotz aller Krisen und Sorgen wünsche ich allen ein gesegnetes, gnadenreiches Weihnachtsfest!