Der deutschen Justiz sind die Hände gebunden, sie kann im Ausland nichts ausrichten. Am 23. Mai 2018 greift dann der Vater zur Selbstjustiz. Karzelek betont heute, er habe dabei keine Gewalt angewandt, Fakt ist: Er fährt damals nach Stettin, nimmt Lara der Mutter weg und verschwindet, um ein paar Tage später in Deutschland wieder aufzutauchen. Die polnische Justiz will ihn seither vor Gericht bringen, der Vorwurf lautet: Freiheitsberaubung. Offiziell wird Karzelek noch immer mit europäischem Haftbefehl gesucht, aber so lange er in Deutschland bleibt, hat er nichts zu befürchten. Der Generalstaatsanwalt teilt im Oktober mit, dass Karzelek nicht für einen Prozess nach Polen ausgeliefert werde. Denn die Tat, die ihm dort vorgeworfen werde, sei nach deutschem Recht nicht strafbar. Da Thomas Karzelek das alleinige Sorgerecht für seine Tochter habe, könne die Rückholaktion von Lara keine Freiheitsberaubung gewesen sein.
Der Vater will den Krieg beenden. Was will die Mutter?
Es gehört zu den bitteren Wahrheiten dieses Falls: „Hätte ich nicht selbst gehandelt, hätte ich Lara nie wieder bekommen“, sagt Karzelek. „Juristisch hätte ich es nicht geschafft.“ Und das, obwohl er juristisch gesehen im Recht war. So wie der Vater damals, hat heute die Mutter keine Chance, Lara auf legalem Weg zurückzubekommen. Auch das ist ein Grund, warum Thomas Karzelek überall Ausschau nach verdächtigen Personen hält. Er fürchtet, dass die Mutter es wieder mit illegalen Mitteln versucht. Sein größter Wunsch? „Ich würde diesen Krieg gerne beenden“, sagt er leise.
Seit Lara wieder in Deutschland ist, hat die Mutter nie mehr versucht, Kontakt herzustellen – nicht einmal per Telefon. Kürzlich aber stellte Joanna S. erstmals einen Antrag auf Umgang mit der Tochter. Wird er genehmigt, dürfte sie Lara besuchen. Thomas Karzeleks Hoffnung ist, dass auf der Basis ein Friedensschluss möglich wird. Er wäre, sagt er, zu einer Mediation bereit. Er sagt auch, dass er will, dass Lara wieder Kontakt zur Mutter bekommt. „Ein Kind braucht beide, braucht Mutter und Vater.“ Im Gegenzug fordert er, dass Joanna S. alle Versuche einstellt, Lara nach Polen zu holen. Noch immer laufen dort verschiedene Verfahren: neben den Ermittlungen wegen der vermeintlichen Freiheitsberaubung auch ein Verfahren mit dem Ziel, das Sorgerecht auf die Mutter zu übertragen.
Das Kind leidet unter dem Loyalitätskonflikt
Ob Joanna S. Frieden will? Thomas Karzelek weiß es nicht, und bis er es herausfindet, bleibt ihm nur, der Tochter ein normales Leben zu ermöglichen – so normal es eben geht, wenn die Mutter zwar eine verurteilte Entführerin ist, aber der Tochter trotzdem fehlt. Kürzlich wurde Joanna S. 40 Jahre alt. Er habe Lara gefragt, ob sie die Mama anrufen und ihr zum Geburtstag gratulieren wolle, erzählt Karzelek. Sie habe abgelehnt. Er weiß, dass das nicht bedeutet, dass Lara die Mutter vergessen hat oder sie nicht mehr liebt. Kinder von streitenden Eltern leiden unter einem ständigen Loyalitätskonflikt. Sie haben das Gefühl, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. „Die Bindungsangst ist bei ihr stark ausgeprägt“, sagt der Vater.
In anderen Lebensbereichen mache Lara große Fortschritte. Anfangs habe sie Konzentrationsprobleme gehabt. Während Unterhaltungen sei sie aufgesprungen und im immer gleichen Radius durchs Zimmer gelaufen – ganz so, als sei sie noch in der 25-Quadratmeter-Wohnung in Polen. Es sei ein langer Weg, sagt Karzelek, aber Lara finde sich immer besser zurecht, auch in der Schule. Sie habe viele Freundinnen, lache viel. „Sie wirkt glücklich.“
Vater und Tochter leben jetzt in Nordrhein-Westfalen, vor einigen Wochen fuhren sie gemeinsam nach Pasewalk. Lara hatte geglaubt, sie sei in Polen zur Welt gekommen – so hat man es ihr offenbar nach der Entführung eingetrichtert. „Deshalb wollte ich ihr ihren Geburtsort zeigen“, erzählt der Vater. Ende Mai ist ein weiterer Ausflug geplant: ins Strohgäu, dahin also, wo die Familie bis zur Entführung lebte. Er werde ihr die Kita in Ditzingen zeigen, alte Freunde besuchen. Die Zeit in Polen habe viele ihrer Erinnerungen ausgelöscht. „Aber vielleicht ist ja noch etwas da.“