Beide liebten die Poesie, beide waren zum Theologen bestimmt und wurden doch nicht Pfarrer. Und beide haben Spuren in Leonberg hinterlassen: Friedrich Hölderlin und Johannes Kepler.

Leonberg - Ab Oktober 1788 wohnt Friedrich Hölderlin (1770-1843) im Evangelischen Stift in Tübingen, um an der Universität das vorbereitende Grundstudium zum Magister Artium zu absolvieren, an das sich bestimmungsgemäß das eigentliche Theologiestudium anschließen sollte. Zuvor war er höherer Klosterschüler in Maulbronn gewesen. Sein enger Freund Immanuel Gottlieb Nast (1769-1829) war Skribent (Schreiber) am Leonberger Rathaus und Sohn des Leonberger Bäckers Andreas Benjamin Nast, dessen Haus am Leonberger Marktplatz stand.

 

Immanuel Nast hatte Hölderlin in Maulbronn oft besucht, der dort auch seine Jugendliebe Louise Nast (1768-1839) kennengelernt hatte, Tochter des Maulbronner Klosterverwalters Johann Conrad Nast und Cousine Immanuels – sie ist die Stella und die Louise in frühen Gedichten Hölderlins. Hölderlin hatte die Nasts in Leonberg besucht, die Gedenktafel am Marktplatz erinnert an „glückliche Tage und selige Stunden“, die vor allem in Maulbronn durchlebt und auch nicht ganz so glücklich durchlitten worden waren. Aber nichtsdestotrotz bleibt so Hölderlins Name mit Leonberg verbunden.

Der junge Hölderlin ist sich der Geschichtsträchtigkeit beider Orte, Maulbronn und Tübingen, bewusst. Viele Geistesgrößen vor ihm haben diese „schwäbische Laufbahn“ von der niederen über die höhere Klosterschule ins Tübinger Stift und an die Universität absolviert. Einer davon war, 200 Jahre früher, Johannes Kepler (1571-1630), dessen Liebe zur Poesie und zu den antiken römischen und griechischen Schriftstellern in Maulbronn entzündet wurde – genauso wie später bei Hölderlin. Kepler wurde im Magister-Artium-Studium auch in die Astronomie eingeführt, einem der vier mathematisch-realen Fächer – ebenso wie später Hölderlin. Beide waren danach zum Theologen bestimmt, beide wurden es nicht, Hölderlin aus Abneigung gegen den Pfarrersberuf, Kepler wegen des Verdachts calvinistischer, antilutherischer Gesinnung.

1589 wurde Kepler in das Tübinger Stift aufgenommen. Bewundernd widmet Hölderlin ihm genau 200 Jahre später eine Ode (siehe unten stehendes Gedicht).

Das ist Friedrich Hölderlin mit 18 Jahren auf einer Zeichnung von 1789 von Immanuel Gottlieb Nast, Hölderlins Leonberger Freund. Foto: Deutsches Literaturarchiv Marbach

Die Überlieferungsgeschichte dieses Gedichts ist insofern ungewöhnlich, als die zweiseitige Handschrift Hölderlins die Zeitläufe in zwei Teilen überdauert hat: Die Verse 1 bis 24 befinden sich heute im Schiller-Nationalmuseum in Marbach, der Rest – mit Echtheitsbestätigung Eduard Mörikes – im Freien Deutschen Hochstift Frankfurt. Das Gedicht wurde erst posthum 1846 in der von seinem Biografen Christoph Theodor Schwab herausgegebenen ersten Ausgabe sämtlicher Werke Hölderlins veröffentlicht.

Hölderlin hatte sich – angesteckt von der allgemeinen Verehrung der antiken Klassiker – ein besonders schwieriges Vers- und Strophenmaß ausgesucht, eine spezielle Odenform, die erst wenige Jahre zuvor Friedrich Gottlieb Klopstock in die deutsche Dichtung eingeführt hatte – unter viel Bewunderung, weil man die deutsche Sprache für die antiken Formen für ungeeignet hielt. Hölderlin wird nach Klopstock der zweite bedeutende Odendichter deutscher Sprache sein.

Thematisch ist das Gedicht interessant, zeigt es doch Hölderlins Beschäftigung mit Leben und Werk Keplers sowie der Astronomie, die er noch vertiefen wollte – er bedauert im November 1791 in einem Brief an seinen Freund Neuffer, „daß ich nicht bälder auf die Astronomie gerathen bin. Diesen Winter soll’s mein angelegentlichstes sein“. Er bewundert Kepler, der seinerzeit die drei Gesetze der Planetenbewegung entdeckt hat und damit Licht in die Unkenntnis bringt. Kepler entwirrt das labyrinthische Dunkel aus falschen und unvollständigen Theorien aus der Antike und von Nikolaus Kopernikus und Tycho Brahe. Er weist den anderen mitternächtlichen Beobachtern der Sterne den Weg.

Kepler kannte jedoch die tiefere Ursache der Planetenbewegungen noch nicht, vermutete magnetische Kräfte, und erst Newton, der Denker in Albion (England), der in der 4. bis 6. Strophe zu uns und Kepler spricht, erkannte in der Gravitation den wahren Grund, der die astronomischen Gesetze seines Vorgängers aus Schwaben (lateinisch Suevia) vollendete.

Auch der Beginn der französischen Revolution 1789 mag ein Aspekt für die Entstehung des Gedichts gewesen sein, denn auch in Tübingen erhofften sich die Gebildeten eine geistige Erneuerung der politischen Verhältnisse, wie Kepler sie damals für die Astronomie eingeleitet hatte.

In der sechsten Strophe – Keplers „Bahn, höhnet des Golds, lohnet sich selbst“ – wird Keplers ausstehende kaiserliche Besoldung angesprochen, ein Motiv, das die Romantik stilisiert bis zu seinem Tod in völliger Mittellosigkeit. Nur ein Beispiel: So dichtet Abraham Kästner, Göttinger Mathematikhistoriker und erster wissenschaftlicher Biograf Keplers, im vierten Band seiner Geschichte der Mathematik 1800:

So hoch war noch kein Sterblicher gestiegen

Als Kepler stieg: Und starb in Hungersnoth!

Er wußte nur die Geister zu vergnügen,

Drum liessen ihn die Körper ohne Brot.

In den letzten drei Strophen schließlich scheint bereits die weitere Kepler-Rezeption des 19. Jahrhunderts auf. In der politischen und wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit der deutschen Kleinstaaterei sollten durch ihre Leistungen bedeutende Männer und Frauen das einigende Band eines deutschen Nationalstolzes bilden. Walhalla, die nordisch-mythologische Ruhestätte gefallener tapferer Kämpfer, sollte nicht nur wie bei Hölderlin symbolisch-geistig bestehen, sondern wurde 1842 als Gedenkstätte bedeutender Persönlichkeiten „deutscher Zunge“ mit Marmorbüsten und Gedenktafeln bei Regensburg als griechischer Tempel nach dem Vorbild des Parthenon in Athen erbaut.

Das ist Johannes Kepler Stich auf einem Stich von Friedrich Wilhelm Wanderer (1840-1910), Maler, Zeichner, Illustrator und Professor an der Kunstgewerbeschule Nürnberg. Er war dort Schüler August von Krelings (1819-1876) gewesen, dem Schöpfer des Weil der Städter Kepler-Denkmals. Foto: Albinus

Kepler, der den Planeten ihre elliptischen Pfade um den ruhenden Pol der Sonne zuwies (erstes Keplersches Gesetz) und die Verbindungsstrahlen Sonne-Planet mit der veränderlichen Umlaufgeschwindigkeit in Beziehung brachte (zweites Keplersches Gesetz), wurde jedenfalls in Form einer Büste ein Platz in der Walhalla zuteil, pikanterweise gestaltet nach einem Kepler-Gemälde, das um 1810 in Regensburg gefunden und Anfang des 20. Jahrhunderts als falsch erkannt wurde: Es zeigt in Wirklichkeit Herzog Ludwig X. von Bayern-Landshut. Der Stolz auf Keplers Leistung, die Hölderlin Vorbild ist, und auf seine württembergische Bildung, die er in gleicher Weise durchläuft, lässt die Furcht vor einem Scheitern, versinnbildlicht durch das Tor zur Hölle, der Sage nach der Vulkan Hekla auf Island, und die Giftschlangen, die Ottern, vergessen. Hölderlin selbst war jedoch – anders als seinem literarischen Vorbild Klopstock – kein Platz in der Walhalla beschieden, er war den Nachfolgenden zu wenig Identifikationsgestalt, zu wenig heroisch, zu wenig geradlinig und sein Leben in der zweiten Hälfte ab 1807 durch die Krankheit im Tübinger Turmzimmer überschattet. „Wir durchlaufen alle eine exzentrische Bahn, und es ist kein anderer Weg möglich von der Kindheit zur Vollendung“, heißt es 1795/96 im Vorwort der vorletzten Fassung von Hölderlins Roman „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“. Exzentrisch bedeutet hier abweichend von der Kreisform, unvollkommen, so wie die Ellipsen in der Antike angesehen wurden, die sich aber letztlich als die wahren Umlaufbahnen der Planeten herausstellten.

Schon 1789 beginnt Hölderlin, die kleine Maulbronner und Leonberger Welt zu vergessen, sein Streben ist auf die universitäre Bildung und die neuen, geistig anregenderen Freunde in Tübingen gerichtet – mit Hegel und Schelling wird er sich 1790 im Stift ein Zimmer teilen. Die Verbindung zum treuen Immanuel Nast lässt er einschlafen. Die noch beim Abschied in Maulbronn „unzertrennbare Liebe“ im Gedicht „An Louise Nast“ löst er durch einen letzten Brief an sie 1790.

Hölderlins Gedicht „Keppler“ jedoch ist der Beginn der deutschen literarischen Beschäftigung mit dem Astronomen. So werden auch die späteren Tübinger Stiftler und Schriftsteller Justinus Kerner 1813, Eduard Mörike 1837 und Karl Gerok 1870 Kepler in Gedichten ihre Reverenz erweisen, und im Laufe des 19. Jahrhunderts kommen weitere literarische Gattungen hinzu, Romane, Erzählungen und Theaterstücke, auch über Keplers Mutter Katharina und ihren Hexenprozess.

Hölderlins Gedicht: „Keppler“

Unter den Sternen ergehet sich

Mein Geist, die Gefilde des Uranus

Überhin schwebt er und sinnt; einsam ist

Und gewagt, ehernen Tritt heischet die Bahn.

Wandle mit Kraft, wie der Held, einher!

Erhebe die Miene! doch nicht zu stolz,

Denn es naht, siehe es naht, hoch herab

Vom Gefild, wo der Triumf jubelt, der Mann,

Welcher den Denker in Albion,

Den Späher des Himmels um Mitternacht,

Ins Gefild tiefern Beschauns leitete,

Und voran leuchtend sich wagt’ ins Labyrinth,

Daß der erhabenen Themse Stolz

Im Geiste sich beugend vor seinem Grab

Ins Gefild würdiger’n Lohns nach ihm rief:

„Du begannst, Suevias Sohn, wo es dem Blik

Aller Jahrtausende schwindelte;

Und ha! ich vollende, was du begannst,

Denn voran leuchtetest du, Herrlicher!

Im Labyrinth, Stralen beschwurst du in die Nacht.

Möge verzehren des Lebens Mark

Die Flamm’ in der Brust – ich ereile dich,

Ich vollend’s! denn sie ist groß, ernst und groß,

Deine Bahn, höhnet des Golds, lohnet sich selbst.“

Wonne Walhallas! und ihn gebahr

Mein Vaterland? ihn, den die Themse pries?

Der zuerst ins Labyrinth Stralen schuf,

Und den Pfad, hin an dem Pol, wies dem Gestirn.

Heklas Gedonner vergäß’ ich so,

Und, gieng‘ ich auf Ottern, ich bebte nicht

In dem Stolz, daß er aus dir, Suevia!

Sich erhub, unser der Dank Albions ist.

Mutter der Redlichen! Suevia!

Du stille! dir jauchzen Aeonen zu

Du erzogst Männer des Lichts ohne Zal,

Des Geschlechts Mund, das da kommt, huldiget dir.

(Orthografie gemäß der

Stuttgarter Werkausgabe Bd. 1.1 von 1946)