Das Landratsamt Böblingen verfügt eine Ausgangssperre für den Kreis, die ab Samstag gilt. Der Leonberger Oberbürgermeister hält die für verfrüht und nicht ausreichend begründet.

Leonberg - Obwohl der Landkreis Böblingen die magische Marke von 150 bei der Sieben-Tage-Inzidenz noch nicht überschritten hat, verfügt das Landratsamt eine nächtliche Ausgangssperre. Diese gilt dann von Samstag an jeweils zwischen 21 und 5 Uhr. „Laut Corona-Verordnung des Landes müssen Landkreise, die trotz Notbremse deutlich über einem Inzidenzwert von 100 bleiben, auch nächtliche Ausgangssperren in Betracht ziehen“, teilt das Landratsamt mit. Diese Marke war bereits am Sonntag drei Mal überschritten gewesen, der Kreis hatte daraufhin die Corona-Notbremse gezogen. Doch die Zahlen stiegen weiter. Am Donnerstag lag die Inzidenz bei 147.

 

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Vor diesem Hintergrund erließ das Landratsamt noch am Donnerstag die Allgemeinverfügung über die Ausgangssperre. Man reagiere noch im Vorgriff auf die Landes-Notbremse mit Blick auf das Wochenende und der Gefahr von Verlagerungseffekten aus dem Umland. „Wir sind der letzte Landkreis in der Region Stuttgart, der die Ausgangssperre einführt“, sagt der Landrat Roland Bernhard.

Er bedauert diesen weiteren Eingriff in die Freiheit, betont aber dessen Notwendigkeit. „Niemand macht sich die Entscheidung zu solch einer Maßnahme leicht, und mir ist bewusst, dass damit die Bewegungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger erheblich beschnitten wird“, sagt Bernhard. „Wir müssen diese Welle aber brechen, denn die Situation in den Kliniken gebietet es.“ Man dürfe nicht nur auf die Inzidenzmarke schauen, sondern müsse auch sehen, dass die Zahl der Corona-Patienten in den vier Häusern des Klinikverbunds Südwest im Landkreis Böblingen seit Wochen kontinuierlich steigt. Aktuell sind 29 Menschen stationär, neun davon müssen intensivmedizinisch betreut werden. „Die Tendenz ist steigend, da wir mittlerweile wissen, dass die Lage in den Kliniken immer ein paar Wochen hinter der allgemeinen Infektionslage hinterher hinkt“, warnt Bernhard.

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Deutliche rechtliche Bedenken gegen eine nächtliche Ausgangssperre kommen aus dem Leonberger Rathaus: Oberbürgermeister Martin Georg Cohn (SPD) lehnt „diesen Eingriff in die Grundrechte der Bürger“ ab. „Die Stadt Leonberg ist sich der prekären Situation durchaus bewusst“, sagt Cohn. „Es muss alles getan werden, um die Pandemie erfolgreich zu bekämpfen.“

Die damit verbundenen Entscheidungen und Maßnahmen seien jedoch „im Lichte eines rechtsstaatlichen Handelns“ zu beurteilen und müssten immer einer gerichtlichen Überprüfung standhalten. „Deshalb müssen derartige Grundrechtseinschränkungen, wie die jetzt vom Landkreis Böblingen beschlossenen Ausgangsbeschränkungen, hinreichend begründet werden. Derzeit ist das aus meiner Sicht nicht ersichtlich.“

Cohn will auf einheitliche Regeln warten

Derzeit wird parallel auf Bundesebene die Änderung des Infektionsschutzgesetzes vorbereitet, die auch Ausgangsbeschränkungen umfasst. Mit dieser Regelung ist zeitnah zu rechnen. „Wir sollten abwarten, bis der Bund die geplanten, einheitlichen Regeln beschlossen hat. Danach können wir uns im Landkreis zusammensetzen und uns über mögliche weitere Maßnahmen austauschen“, sagt Cohn.

Kein Verständnis hat der Leonberger Oberbürgermeister für Äußerungen des Bundesgesundheitsministers vom Donnerstag: Jens Spahn hatte die Kommunen zu einem sofortigen härteren Kurs aufgefordert. Städte und Kreise sollten nicht auf das neue Bundesgesetz warten, sondern direkt handeln.

OB: intensive rechtliche Prüfung ist notwendig

Martin Georg Cohn sieht es genau anders herum: „Ich halte es für ausgesprochen problematisch, massive Grundrechtseinschränkungen wie eine Ausgangssperre ohne eine intensive rechtliche Prüfung zu vollziehen.“ Zumal es nicht erwiesen sei, dass eine Ausgangssperre die Inzidenzen wirklich nach unten treibt. Cohn verweist auf das Beispiel der niedersächsischen Stadt Salzgitter, in der bereits seit dem 31. März eine Ausgangssperre gilt. Dennoch ist in dieser Woche der Inzidenzwert von 265 auf 325 gestiegen. Die Stadt hat die Ausgangssperre um weitere zwei Wochen verlängert.

Im Landkreis Böblingen kann der OB eine solche Dramatik nicht erkennen: Das Landratsamt müsse nachweisen, dass es sich, wie in einem Rundschreiben des Kreises an die Bürgermeister behauptet, in der Region tatsächlich um ein diffuses Infektionsgeschehen handelt.

„Bei maßgeblichen Einschränkungen des Persönlichkeitsrechts in Form einer Ausgangssperre muss vor Erlass einer Verfügung nachweislich geprüft werden, dass die Grenze der Infektionswerte nicht allein durch „Hotspots“ (zum Beispiel Pflegeheime, Kindergärten, Schulen und so weiter) überschritten wurde. Dass dieser Nachweis seitens des Landkreises geführt wird, sei „nicht erkennbar“. Die täglichen Lageberichte gäben hierzu keine Auskunft. „Der Erlass des Sozialministeriums vom 31. März weist ebenfalls darauf hin und ist zu beachten“, sagt Oberbürgermeister Cohn.