Im Prozess um den versuchten Mord eines Paketboten zeigt das Opfer viel Verständnis.

Weil der Stadt - Der 40-jährige Mann ist von seinem Angreifer mit einem Messer lebensgefährlich verletzt worden. Doch bei seiner Aussage vor dem Stuttgarter Landgericht zeigte der Produktentwickler einer Automobilfirma erstaunlich viel Verständnis für den 21-Jährigen, der wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr angeklagt ist.

 

„Wir hatten beide offenbar einen schlechten Tag, wir hätten beide den Vorfall vermeiden können“, sagte der Mann, der im Mai dieses Jahres mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause in der JosefBeyerle-Straße in Weil der Stadt war. Er beschrieb sich als passionierten Radfahrer, der rund 10 000 Kilometer im Jahr fährt und auch schon an 24-Stunden-Rennen teilgenommen hat. „Ich halte Stress auf dem Fahrrad aus und bin es gewohnt, ein bis zwei Mal pro Woche fast über den Haufen gefahren zu werden“, erklärte er.

An diesem Freitagnachmittag im Mai habe er sich jedoch extrem erschrocken, als der Paketbote ihn knapp überholt und dabei gehupt habe. „An guten Tagen ignoriere ich so etwas“, sagte der 40-Jährige. An diesem Tag sei er jedoch zur Tür des Fahrers gegangen, habe aggressiv dagegen geklopft und sinngemäß gefragt, ob dieser ihn umbringen wolle. Als er nicht die erwartete Entschuldigung gehört habe, seien Beleidigungen hin und her gegangen.

Schock: Auf einmal sieht er das Messer

Er sei dann mit einer abwertenden Handbewegung weitergefahren und habe noch gehört, dass ein Motor aufgeheult habe. Als er dann angefahren worden und vom Rad gestürzt sei, habe er instinktiv geahnt, dass dies der Angeklagte gewesen sei. Er habe zunächst noch gedacht, das sei nicht mit Absicht passiert, und der Angeklagte habe nach ihm schauen wollen, als er auf ihn zugelaufen kam. Der Anblick des Messers in dessen Hand habe dann jedoch einen Schock in ihm ausgelöst. Was danach passiert sei, wisse er nicht mehr. „Ich kann mir die Bilder nicht mehr vorstellen, und ich bin froh darüber“, sagte der 40-Jährige, der zeitweise in psychotherapeutischer Behandlung war.

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Warum er operiert sei, wisse er nicht, er habe den Arztbericht nie gelesen, führte der Mann weiter aus. Er sei eine Woche im Krankenhaus gewesen. „Wenn ich niesen musste, bin ich vor Schmerz auf die Knie gegangen“, erzählte der 40-Jährige. Vier bis sechs Wochen habe er Schmerzmittel in höchster Dosierung genommen, sechs Wochen sei er krankgeschrieben gewesen.

Danach sei es ihm besser gegangen, doch in den letzten vier bis fünf Nächten vor seiner Zeugenaussage habe er kaum geschlafen. Zudem sei er umgezogen und pendle derzeit drei bis vier Stunden zur Arbeit. Das Unfall-Fahrrad habe er verschrottet, alle anderen verkauft. „Ich fahren seitdem kein Rad mehr“, sagte er. Er habe sich auch charakterlich verändert und könne sich bei der Arbeit nicht mehr so gut durchsetzen. Zudem plagten ihn Schuldgefühle: „Ich bin älter als der Angeklagte, ich hätte cooler sein müssen und hätte es nicht eskalieren lassen dürfen“, meinte er.

„Du kommst hier nicht vorbei“

Dass die Situation nicht noch mehr eskaliert ist, verdankte der 40-Jährige einem 52-Jährigen, der für ihn zum Schutzengel wurde. Dieser saß im Auto neben dem  Pakettransporter und stieg aus, als er sah, dass der Angeklagte auf den am Boden liegenden Radfahrer vermeintlich einprügelte. Er schrie „Jetzt langt’s aber“ und habe erst dann gesehen, dass der Angreifer ein Messer in der Hand habe, erklärte er den Richtern. „Er hat dann gesagt, ,ich komme vom Beten, jetzt habe ich eine Sünde begangen und muss töten‘“, führte der hünenhafte 52-Jährige weiter aus.

Er habe sich dann zwischen den Radfahrer und den Angreifer gestellt und ihn permanent angeschrien „Du kommst hier nicht vorbei“. Irgendwann sei der Angeklagte, der wie weggetreten gewirkt habe, dann zu seinem Auto zurückgegangen. „Sonst hätte er wohl weitergemacht“, ist sich der 1,86 Meter große und 140 Kilogramm schwere Mann sicher, der als Soldat im Balkankrieg war. Für seinen couragierten Einsatz habe er einen Dankesbrief vom Polizeipräsidenten erhalten.

Der Prozess wird am Freitag, 6. Dezember, fortgesetzt. Das Urteil soll am 20. Dezember gesprochen werden.