Friedrich Kärcher, Wilhelm Binder und Rudolf Hettich haben den Ort vor Tod und Zerstörung bewahrt. Nach dem Krieg wird Kärcher das aber nicht gedankt.

Rutesheim - Auf dem Rutesheimer Friedhof fällt auf, dass die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges hier zahlreiche Opfer gefordert haben: Kinder, Frauen, Männer – Zivilisten und Soldaten. Dass heute vor 72 Jahren nicht noch mehr Opfer zu beklagen waren, ist drei beherzten Männern zu verdanken, Friedrich Kärcher, Wilhelm Binder und Rudolf Hettich.

 

Unter Einsatz ihres Lebens haben sie erreicht, dass es in der Gemeinde beim Einmarsch der französischen Truppen am 20. April 1945 gegen 14.30 Uhr kein weiteres Blutvergießen gab und der Ort nicht zerstört wurde, wie etwa Heimsheim.

Friedrich Kärcher, der im Haus an der Gebersheimer Straße beim Friedhof wohnte, war hier mit einer weißen Fahne auf die anrückenden französischen Truppen zugegangen. Er und die beiden anderen nahmen mit den Franzosen Verhandlungen auf. Die Soldaten waren daraufhin, ohne einen Schuss abzugeben, ins Dorf eingezogen.

129 Frauen und Mädchen werden vergewaltigt

Die drei Männer hatten riskiert, direkt in die Kämpfe zu geraten. Denn vom Engelberg her versuchten deutsche Soldaten, die vorrückenden Franzosen mit Artillerie unter Beschuss zu nehmen. Doch ihre Granaten schlugen im Hof des Gasthauses „Zum Ochsen“ ein. Splitter verletzten mehrere Kinder zum Teil schwer. Die erst 20-jährige Anna Berner verlor an diesem letzten Tag des Krieges ihr Leben.

Für viele Frauen wurde der Einmarsch der französischen Truppen im Ort ein schreckliches Ereignis. Etwa 129 Frauen und Mädchen sind vergewaltigt worden.

Den drei Aufrechten hätte im Falle eines Rückzugs der Alliierten auch die standrechtliche Hinrichtung durch fanatische Nazi-Anhänger gedroht. Sie hatten sich nämlich dem Befehl von Adolf Hitler widersetzt, jeden Ort bis zum „letzten Tropfen Blut“ zu verteidigen.

Einsatz gegen Todesstrafe

Wie gefährlich die Lage war, zeigen die Fälle zweier Frauen, die knapp der Todesstrafe entgingen. Der Rutesheimer NS-Bürgermeister Friedrich Raich, NSDAP-Mitglieder und auch einige Gemeinderäte waren zuvor geflohen. Ein Leutnant wollte den Ort mit Panzersperren befestigen und drohte allen mit der Todesstrafe, die dem nicht Folge leisten wollten. Trotzdem hat Martha Pflüger versucht, den Bau der Panzersperren zu verhindern. Glücklicherweise ist sie mit Arrest davon gekommen.

Wie Armin Kärcher, der Enkel von Friedrich Kärcher, beim 70-jährigen Treffen ehemaliger Schulkameraden erfahren hat, hat sein Großvater der Mutter einer Klassenkameradin seinerzeit das Leben gerettet. Sie hatte „Feindsender“ gehört – worauf die Todesstrafe stand – und wurde beim Leutnant denunziert. Kärcher erklärte dem Leutnant, er habe sie darum gebeten die Radiosender zu hören, damit er ihm wichtige Informationen über die Stellung des Feindes geben könne.

Der Verhandlungsführer wird als Bürgermeister eingesetzt

Der heute 77-jährige Armin Kärcher erinnert sich, dass am Vortag des Einmarsches der Franzosen ein deutscher Soldat desertierte und seinen Großvater um Hilfe für seine Flucht in Richtung Nürnberg bat. Dieser versteckte ihn bei Verwandten im Haus Märkt und gab ihm Zivilkleidung und Verpflegung. „Als Dank erhielt ich sein militärisches Essgeschirr und Besteck“, erinnert sich Armin Kärcher. Der Großvater erhielt eine Geige, die der Soldat wahrscheinlich irgendwo als Beute hat mitgehen lassen. „Diese ist noch heute, da der Eigentümer bisher nicht ermittelt werden konnte, in unserem Besitz“, erzählt der 77-Jährige.

Den Verhandlungsführer Friedrich Kärcher setzte der französische Kommandant als Bürgermeister ein, Wilhelm Binder als Stellvertreter und Rudolf Hettich als Beigeordneten. Am 27. Juli 1945 wurde Friedrich Kärcher als von der „Militärregierung befürworteter Bürgermeister“ im Landratsamt Leonberg vereidigt.

Information:
Friedrich Kärcher ist ein Kapitel in dem Buch „Menschen, die Spuren hinterlassen haben“ von Harald Schaber gewidmet sowie ein Beitrag in der Ausstellung in der Stadtbücherei anlässlich von 1250 Jahren Rutesheim.

Bürgermeister und Gemeinderat trennen sich im Zwist

Gedankt haben die Rutesheimer ihrem ersten Bürgermeister seine Verdienste um den Ort kaum – ganz im Gegenteil. Dabei hat er in seinem Amt versucht, Ordnung in die chaotischen Zustände einer aus den Fugen geratenen Dorfgemeinschaft zu bringen. Anordnungen der Militärregierung wurden ihm persönlich angekreidet. Wer vor Kriegsende durch seine NSDAP-Mitgliedschafts im Dorf den Ton angegeben hat, sollte dafür zur Rechenschaft gezogen werden und hatte plötzlich nichts mehr zu sagen.

So habe er auf Anordnung der Militärregierung eine Liste von fast 30 heimgekehrten Soldaten erstellt, die sich dann auf dem Rathaus einfinden und in mehrjährige französische Kriegsgefangenschaft gehen mussten – ein Vorgang der überall so stattgefunden hat, denn war jemand politisch belastet, stand das schon in dem Entlassungsschein aus dem Militärdienst.

Es gilt, das Chaos zu regieren

Im Dorf ist es auch nicht auf Begeisterung gestoßen, dass für Flüchtlinge, Ausgebombte und Vertriebene Wohnungen beschlagnahmt wurden und ehemalige polnische Zwangsarbeiter verpflegt und untergebracht werden sollten. Auch wurden die sonntäglichen, von der Militärregierung angeordneten Arbeitseinsätze für ehemalige Parteimitglieder als Schikane des Bürgermeisters empfunden.

Der auf Erlass der Militärregierung gebildete Gemeinderat, dem keine ehemaligen NSDAP-Mitglieder angehören durften, hat für 27. Januar 1946 erste demokratische Gemeinderatswahlen vorgeschlagen. Dabei gab es kräftiges Störfeuer seitens ehemaliger NSDAP-Mitglieder. Ob der neue Gemeinderat mit Bürgermeister Kärcher nicht konnte oder umgekehrt, ist heute schwer zu sagen. Jedenfalls verkündete er überraschend: „Da die Mehrheit des neugewählten Gemeinderats mir als Bürgermeister nicht das nötige Vertrauen entgegenbringt, bitte ich, ab 26. Februar 1946 die Dienstgeschäfte niederlegen zu dürfen.“

Der Gemeinderat will die Kärchers nach Hamburg abschieben

Wie tief das Zerwürfnis war, zeigte sich Ende Mai, als der Landrat eine Liste mit Personen anforderte, die in ihre frühere Heimat, an den Ort, wo sie am 1. September 1939 gewohnt haben, „rückevakuiert“ werden sollten. Darauf standen auch Friedrich Kärcher und die Familie seines Sohnes Alfred, denn sie hatten als „Ausgebombte“ aus Hamburg 1943 in Rutesheim eine Bleibe gefunden, wo Friedrich Kärcher 1880 geboren worden war. Als Tischlergeselle hatte er seine Frau Frieda 1907 in Hamburg geheiratet. Hier hatte er bis 1943 als Schiffszimmerer auf einer Werft gearbeitet. Sohn Alfred hatte am Berliner Konservatorium Musikwissenschaft und Kompositionslehre studiert. Der Chormeister half beim Neuanfang der SKV-Sängerabteilung und war im Herbst 1945 ihr Dirigent.

Landrat und Militärgouverneur schalten sich ein

Die Kärchers wandten sich ans Rathaus, um bleiben zu dürfen. Der Gemeinderat lehnte ab. Im Protokoll stand: „Die Abordnung soll dahingehend wirken, dass die beiden Familien Kärcher unbedingt in aller Kürze Rutesheim verlassen müssen.“ Auch der Leonberger Landrat schaltete sich ein und bescheinigte ihm gemeinsam mit dem US-Militärgouverneur, dass er unter Einsatz seines Lebens wesentlich dazu beigetragen hat, dass Rutesheim beim Einmarsch der Franzosen unversehrt blieb. Als Bürgermeister sei er stets bestrebt gewesen, das Wohl der Gemeinde wahrzunehmen und die ihm gestellten Aufgagen zu erfüllen. Auch ein zweiter Antrag auf Bleibe wurde vom Gemeinderat in geheimer Abstimmung mehrheitlich abgelehnt.

Kurt Schaible setzt sich ein

Als Bürgermeister wurde der Gemeindepfleger Ludwig Krämer eingesetzt. Im Dezember 1947 wurde ein neuer Gemeinderat gewählt – Krämer trat zum Jahresende zurück. Der legendäre, 1948 mit 26 Jahren gewählte Bürgermeister Kurt Schaible, der im gleichen Lehrerhaus in der Hindenburgstraße wohnte, wie die Familie von Alfred Kärcher, setzte sich ein, dass die Kärchers im Ort bleiben durften. Doch die Wunden saßen zu tief. Im Jahr 1952 sind sie nach Hamburg zurückgekehrt, wo Rutesheims erster Nachkriegs-Bürgermeister am 25. August 1955 verstarb.