Als Kind flieht Muhammed mit seiner Familie aus Syrien. Er wohnt in Waldenbuch, er steht kurz vor dem Schulabschluss in Leonberg – dann wird er plötzlich abgeschoben.

Lenberg - Als Muhammed Jafo am frühen Morgen des 16. Juni seine Augen aufschlägt, stehen mehrere Polizeibeamte in seinem Zimmer. Am Abend vorher hat der 19-Jährige noch lange für eine Klassenarbeit gelernt, die er am nächsten Tag in seiner Schule, dem Beruflichen Schulzentrum in Leonberg, schreiben sollte.

 

Jetzt, nachts um halb drei, ist die Polizei gekommen, um Muhammed und seine Familie ins Ausland abzuschieben – nach Kroatien, wo die kurdische Familie aus Syrien auf ihrer Flucht aus dem kriegsgebeutelten Heimatland einige Zeit verbracht hatte. Weil Mohammeds Vater aufgrund einer geistigen Behinderung transportunfähig ist, die Mutter in einen Schockzustand fällt und einer der beiden jüngeren Brüder bei einem Freund übernachtet, nehmen die Beamten nur Muhammed mit.

Er hatte schon einen Ausbildungsplatz

Muhammed, der gerade mal 19 Jahre alt ist. Muhammed, der nach einer langen Flucht gerade kurz davor war, seinen Hauptschulabschluss zu machen, der erst am Tag zuvor die Zusage für einen Ausbildungsplatz bekommen hatte. Mitnehmen darf er beim nächtlichen Abtransport nur wenige Klamotten, sein Handy und ein Buch. „Du musst nicht von allen gemocht werden“, heißt es. Untertitel: „Vom Mut, sich nicht zu verbiegen.“

Am Kölner Flughafen will Muhammed seine zuständige Integrationsmanagerin anrufen. Das Gespräch dauert nur wenige Sekunden, dann muss Muhammed auf Anweisungen des Polizisten wieder auflegen. Um 12 Uhr mittags steigt Muhammed in ein Flugzeug und lässt das Land, auf das er so viele Hoffnungen setzte, hinter sich. Wenige Stunden später wird er, ohne Ansprechpartner und auf sich alleine gestellt, in Zagreb abgesetzt. Die erste Nacht schläft er in einem Park. „Mir geht es nicht so gut“, erzählt Muhammed am Telefon. Seine Stimme klingt blechern durch den Hörer, die Verbindung ist wacklig. Ein Ende sitzt in Leonberg, das andere in Kroatien. Gut 800 Kilometer liegen dazwischen.

Eine lange Flucht

Muhammed ist zehn Jahre alt, als er und seine Familie 2012 aus Aleppo und in Richtung Europa fliehen. Erst bleiben sie in der Türkei, wo Muhammed als ältester von drei Söhnen arbeiten geht, weil sein Vater es nicht kann. Sechs Jahre später folgt die Flucht nach Kroatien, mithilfe der Internationalen Organisation für Migration. Für Muhammed ist das die große Hoffnung: Er will zur Schule gehen, unbedingt. In Kroatien angekommen zerplatzt der Traum schnell wieder. Weil er schon 16 Jahre alt sei, habe er kein Recht mehr auf eine schulische Ausbildung. Immer wieder habe er bei verschiedenen Organisationen angefragt, erinnert sich Muhammed. „Aber ich wurde immer enttäuscht.“

Die Situation in Kroatien ist für die Familie kaum tragbar. In einer Verfassungsbeschwerde, die nach Mohammeds Abschiebung von dem Anwalt der Familie beim Bundesverfassungsgericht eingereicht wurde, wird von einem „teilweise menschenunwürdigen Aufenthalt“ gesprochen. Für Muhammed und seine Familie gibt es nur den Weg nach vorn – den Weg nach Deutschland. Hier stellen die Eltern im August 2019 einen Antrag auf Asyl.

Seitdem hat sich Muhammed in Lichtgeschwindigkeit integriert: Auf Deutsch kann er sich bald ohne Probleme verständigen, qualifiziert sich außerdem für einen Hauptschulabschluss. Für den Besuch des AV-Dual am Beruflichen Schulzentrum Leonberg nimmt Muhammed, der mit seiner Familie in Waldenbuch lebt, täglich drei Stunden Fahrt auf sich. Als die Corona-Pandemie ausbricht, nähen Mohammed und seine Brüder ehrenamtlich 300 Stoff-Masken für die örtliche Schule.

Viele Unterstützer

In den Dokumenten des Anwalts häufen sich Schreiben von Menschen aus seinem Leben, die sich passioniert für den jungen Syrer aussprechen, auf seine Rückholung pochen, sich Sorgen machen. Der 19-Jährige sei eine „Bereicherung für unsere Schule“ gewesen, heißt es etwa seitens der Schule. Auch Tanja Gutzmer, die erste Vorsitzende des Waldkindergartens Waldenbuch, wo Muhammed im Herbst vergangenen Jahres ein Praktikum begonnen hat, berichtet nur Gutes. Laut ihr war Muhammed immer zielstrebig, fröhlich, aufmerksam. „Er hatte von Anfang an einen Draht zu den Kindern“, erzählt sie. „Wir haben schnell seine besondere Begabung für den Erzieherberuf gesehen.“

Muhammed mag die Arbeit im Kindergarten. „Das hat mir gefallen, weil ich keine richtige Kindheit hatte“, sagt er. Die Zusage für einen Ausbildungsplatz in einem katholischen Kindergarten in Waldenbuch erhält er bereits nach einem einzigen Tag Probearbeiten. Nach der Ausbildung, davon träumt Muhammed, will er Sozialpädagogik studieren.

In Kroatien hat er keine Perspektive

Jetzt sitzt Muhammed in Kroatien fest. Durch das Engagement einer Lehrkraft, der Schule und anderer Beteiligter muss er nicht mehr im Park schlafen, sondern hat einen Platz in einer Jugendherberge bekommen. Seine Mitschüler in Leonberg haben eine Spendenaktion gestartet, mit deren Ertrag Muhammed diese Unterkunft zumindest kurzzeitig bezahlen kann. Perspektive hat er in Kroatien keine – die Jobsuche war für ihn bisher erfolglos. „Alle sagen nein“, berichtet er am Telefon. „Sie nehmen keine Ausländer, keine Flüchtlinge.“ In Kontakt mit seinen Lehrern, seiner Familie und seinen Freunden in Deutschland ist er jeden Tag. Sie haben auch eine Petition an den baden-württembergischen Landtag gestartet. „Sie geben mir die Hoffnung“, sagt Muhammed.

Hoffnung, die gibt es auch, weil der Anwalt der Familie Jafo, Erdogan Budak, inzwischen eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hat. Darin zählt er detailliert auf, welche Verfahrensfehler aus seiner juristischen Sicht in Muhammeds Fall begangen wurden. Zum einen, so heißt es in der Beschwerde, sei die Abschiebung eine Verletzung der Grundrechte auf Asyl und Familie – letzteres, weil Muhammed ohne den Schutz der Familie einer prekären Situation ausgesetzt ist.

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Außerdem argumentiert der Anwalt mit einem Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention, weil Mohammed und seine Geschwister bei Asylantrag der Eltern keine nötige Betreuung bekommen haben, trotz der Pflegebedürftigkeit des Vaters und des psychischen Zustandes der Mutter. Auch einen Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention sieht der Anwalt. Nicht zuletzt, so heißt es in den Dokumenten der Verfassungsbeschwerde, sei die durch das Dublin-Verfahren festgelegte Frist für eine Abschiebung im Falle der Familie Jafo schon abgelaufen. Die Bundesregierung argumentiert anders: Weil Muhammed und seine Familie bereits Flüchtlingsstatus in Kroatien hätten, sei das Dublin-Verfahren gar nicht anzuwenden.

Warten auf gute Nachrichten

Nicht zu leugnen ist: Muhammed hat eine helle Zukunft in Deutschland. Wie kann es dann passieren, dass er das Land trotzdem verlassen muss? „Die Regierung hat einen Job, und das ist die Regulierung und Kontrolle der Migration“, findet Anwalt Erdogan Budak. „Dabei entstehen eben auch Fehlentscheidungen.“ Optimistisch ist er trotzdem, auch, wenn Beschwerden wie diese in vielen Fällen nicht erfolgreich wären. „Es war trotzdem notwendig, das zu tun“, betont er.

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Jetzt heißt es warten – bis die Verfassungsbeschwerde durchgeht, und bis ebenfalls eingereichte Anträge bei der Härtefallkommission bearbeitet werden. Muhammed wartet unterdes jeden Tag auf gute Nachrichten aus Deutschland. Auch er hat mit der Verfassungsbeschwerde des Anwalts ein Schreiben eingereicht, in dem er von seiner Fluchterfahrung und seinen Zielen erzählt. „Wenn wir zurück nach Kroatien müssen, ist meine Zukunft und der Traum der Ausbildung aussichtslos“, schreibt er darin. „Liebe Damen und Herren, ich hoffe Sie verinnerlichen meine Zeilen und denken über Ihr Urteil noch mal nach. Sie würden damit das Leben von fünf Menschen retten.“

Hilfe für Muhammed

Petition
Um Muhammed zu unterstützen, sammeln seine Freunde Unterschriften für eine Petition an den Landtag. Die Petition kann unter chng.it/55WM5Ph6 eingesehen werden.