Werke des russischen Künstlers Sergej Longinov sind in der Christian-Wagner-Bücherei zu sehen. Dank einer bunten, vielgestaltigen Geschichte voller Übergänge, Brüche und Begegnungen ist die Verbindung nach Rutesheim entstanden.

Rutesheim - Wie kommt Rutesheim zu einer Ausstellung mit Werken des aus Kamtschatka stammenden itelmenischen (auch: itenmenischen – Itenmen heißt „die hier leben“) Künstlers Sergej Longinov? Dank einer bunten, vielgestaltigen Geschichte voller Übergänge, Brüche und Begegnungen. Beispielsweise der Begegnung mit dem Rutesheimer Zimmermann Markus Hertel.

 

Sergej Longinov hat den Pik Lenin bestiegen und öfter als ihm lieb war auch das Konterfei und die ideologischen Sprüche des Namensgebers auf Plakate gepinselt. Auch auf dem Pik Kommunismus stand er schon – und unter den Konfrontationen mit dem sozialistischen System hat er gelitten. Longinov, 1957 geboren und in einer itelmenisch-koreanischen Familie auf der Halbinsel Kamtschatka im Osten Sibiriens aufgewachsen, ist in erster Linie Künstler.

Werke aus allen Schaffensperioden

Als solcher zeigt er in der Christian-Wagner-Bücherei Werke aus fast allen Perioden seiner 40 Jahre währenden Schaffenszeit. In zweiter Linie ist Longinov aber ein drahtig wirkender Tausendsassa, der den „Übergang“ offenbar zu einer Art Lebensmotto gemacht hat.

Wie sonst ließe sich erklären, dass der gelernte Schlosser sich von seinem Arbeitsplatz auf einer Schiffswerft in ein Labor am Institut für Vulkanologie verabschiedete, um dort, nach dem Ausbruch des Tolbatschik, Feldforschung zu betreiben; dass er nach seinem Dienst an der russisch-chinesischen Grenze ab 1978 in Leningrad Grafik, Malerei und Skulptur studierte? Zu Beginn der 80er schon wieder in Petropawlowsk-Kamtschatski als Grafiker in einem TV-Studio arbeitete. Fast ein halbes Jahr lang die UdSSR von Magadan in Ost-Sibirien bis Leningrad auf dem Fahrrad durchquerte. Als Bergretter arbeitete, Reiseberichte veröffentlichte. In die Volksorganisation „Tchsanom“ eintrat, die sich der Wiedergeburt der itelmenischen Kultur und Sprache verschrieben hatte und es als Grafiker in einem Verlag so lange ausgehalten hat, dass er auf der Liste jener, die bald eine Wohnung und ein Auto bekommen sollten, schon ganz oben stand.

Vergangenheit. Kamtschatka liegt hinter Longinov. Seine Wohnung ist jetzt in London. Und auch wenn sein Land, dessen Natur und Kultur ihm fehlen, hat er sich doch – übergangsweise? – im Westen eingerichtet. Noch vor dem Augustputsch in Moskau 1991 kam er dank eines Handwerkeraustauschs nach München. „Ich wollte unbedingt die Bauten von Frei Otto live sehen“, erklärt er sein Interesse an Deutschland. Markus Hertel, Zimmermann aus Rutesheim, war beim Handwerkeraustausch in umgekehrter Richtung unterwegs und arbeitete eine Zeit lang in Sankt Petersburg. Die beiden lernten sich kennen – die Freundschaft währt inzwischen fast 25 Jahre. Auch einige der Longinov-Bilder, die Hertel zwischenzeitlich besitzt, werden bei der Ausstellung gezeigt.

Die Kunst war allen Umbrüchen im Leben Longinovs zum Trotz immer die Konstante – notfalls, wenn die Daumen der offiziellen Entscheider angesichts „grüner Männchen“ in den Bildern junger, rebellischer Künstler, mal wieder nach unten gezeigt hatten, stellten die ihre Arbeiten eben im Untergrund aus. „Aber ich konnte mich nun mal nur in der Kunst ausdrücken“, erklärt er. So verabschiedete er sich aus dem „geschlossenen Kochtopf“, als den er das Sperrgebiet Kamtschatka oft empfunden hat. „Die Mappe mit meinen Arbeiten war das Gold, das ich nach Deutschland mitgebracht habe“, erzählt er. Seither hat er zahlreiche Einzelausstellungen gehabt und seine Werke auch gemeinsam mit anderen Künstlern in Deutschland, Frankreich, England und Spanien gezeigt.

Abstrakte Kunst voller Symbole

Man kann vieles entdecken im weiten Kosmos des Sergej Longinov, der im Übrigen auch noch in München an der Akademie der Bildenden Künste Malerei und Grafik sowie in Heidelberg Architektur studiert hat. Unerklärliche Schriftzeichen stehen neben Natursymbolen, durchaus ein wenig an die sowjetische Plakatkunst gemahnende Grafiken neben schamanischen Kunstwerken aus Holz, Leder, Fischhaut. Oft abstrakt, stecken sie doch voller Symbole. Häufig verwendet er die Farben Schwarz, Weiß und Rot.

Longinov selbst rechnet sich dem „Ethno-Symbolismus“ zu – als Grundlage seiner Arbeiten dienen ihm häufig Motive aus der Erzähltradition seines Volkes. So kann, wer mit offenen Augen durch die Ausstellung geht, vielleicht auch das rabengestaltige Wesen Kutch entdecken, das nach der Itelmen-Mythologie die Menschen erschaffen hat. Die Boote, Vulkane und Fische, die im Leben der Itelmenen eine so große Rolle spielen. Die schlafenden Menschen inmitten eines Irisfeldes – jenen Blumen, an die Longinov sich so gut aus seiner Kindheit erinnert. Die Menschen und ihre Erinnerungen, ihren Kontakt zur Vergangenheit im großformatigen Werk „Die Aufsteigenden“. Oder den goldenen Turm, ein Werk aus dem Jahr 1982, in dem Longinov eine „kommunistische“, machtvolle Pyramide aus einem rot-weißen Meer der Gleichförmigkeit aufsteigen lässt. Spürbar wird in Longinovs Arbeiten sein Empfinden der unmittelbaren Einheit mit den Dingen und Traditionen seiner Kultur, sein Wunsch, die eigenen Wurzeln und Erinnerungen lebendig zu halten.