Petra und Kai Oberst verkaufen das Boulevard-Blatt in der Postagentur Rutesheim nicht mehr. Im Internet erhalten sie dafür tausendfaches Lob.

Rutesheim - Liebe Kundschaft, uns reicht es jetzt ebenfalls. Wir nehmen an der Hetzjagd um einen psychisch kranken Menschen nicht länger teil und werden die Bildzeitung heute ebenfalls nicht verkaufen. Wir bedanken uns für Euer Verständnis.“ Mit dieser kurzen Nachricht auf der Seite der kleinen Postagentur Rutesheim im Online-Netzwerk Facebook am Samstag fing alles an. Dazu hat Petra Oberst ein Foto gestellt, dass einen Teil der Schlagzeile der Zeitung zeigt: ein Foto des Co-Piloten des abgestürzten Germanwings-Flugzeugs, dazu die Bezeichnung Massenmörder und der Name. Diesen hat Petra Oberst unkenntlich gemacht und mit dem gleichen Stift einen schwarzen Balken über die Augen gemalt. Denn so stellt sich die Rutesheimerin eine angemessene Berichterstattung vor.

 

Was auf den ersten Beitrag folgt, ist eine wahre Flut an „Gefällt mir“-Klicks (über 35 000), die Meldung wird mehr als tausend Mal geteilt und kommentiert. „Eine Bekannte zeigt mir dann den Post einer Aral-Tankstelle in Bendorf, die ankündigte, keine Bild-Zeitung mehr zu verkaufen“, erzählt Petra Oberst. Am Montagmorgen, nach Rücksprache mit ihren beiden Auszubildenden, entscheiden sie und ihr Mann, die gemeinsam die Postagentur führen, nachzuziehen und das Blatt überhaupt nicht mehr anzubieten. Die Facebook-Nachricht dazu verbreitet sich innerhalb weniger Stunden wie ein Lauffeuer. Über 300 000 Menschen haben sie bislang gesehen, 50 000 den virtuellen Daumen für die Aktion gehoben. „Wir sind von dem Wirbel echt überrascht. 95 Prozent der Reaktionen waren positiv, einige wenige haben uns das als Zensur ausgelegt“, erzählt Oberst. „Jeder Kunde hat das Recht, sich die BildZeitung zu kaufen. Aber ich habe nicht die Pflicht zu verkaufen“, sagt sie bestimmt.

Das Zeitschriftenregal im Laden ist nur einen Meter breit. Auf fünf Reihen verteilen sich Hochglanzmagazine, von der Frauen- über die Fernsehzeitschrift, vom Bastelheft bis zum Elternratgeber ist alles dabei. Außer Zeitungen. „Die meisten Leute beziehen ihre Tageszeitung im Abo. Was sich nicht verkauft, fliegt raus“, erklärt die Rutesheimerin. Von der Bild habe sie etwa fünf bis sechs Exemplare pro Tag verkauft. „Das tut mir also nicht weh. Die paar älteren Herren, die sie jeden Tag bei mir geholt haben, denken, sie ist einfach ausverkauft“, erzählt sie. Sonst habe noch niemand das Blatt vermisst. Auto-Bild oder Bild der Frau verkauft sie weiterhin.

Die Berichterstattung über den Germanwings-Absturz, über Griechenland und vieles andere, der Eindruck, viele nehmen die Bild-Zeitung als feste Institution, als Macht-Medium einfach hin und finden sich damit ab. „Ist das die richtige Art des Journalismus?“, fragt Kai Oberst, der nicht glaubt, dass die Bild das Sprachrohr der Deutschen ist, zu dem sie sich selbst gern aufschwinge.

Alle zwei Minuten bimmelt das Glöckchen an der Eingangstür. „Alles Stammkunden“, sagt Petra Oberst und bedient schnell eine junge Mutter mit Kind. Kunden kommen, um Pakete abzuholen oder zu verschicken. Ostern steht vor der Tür.

Der Bild-Boykott sei vor allem im Internet ein Thema, im direkten Kundenverkehr nicht. Im sozialen Netzwerk hätten ihr einige Leute vorgeworfen, die Aktion rein aus Werbezwecken gestartet zu haben. „Aber was bringt mir ein Like aus Düsseldorf? Keinen Cent“, entgegnet Petra Oberst. Das Hauptgeschäft sind Briefmarken und Päckchen, dazu verkaufen sie und ihr Mann in ihrem kleinen Laden in der Ortsmitte von Rutesheim Schreibwaren, ein paar Süßigkeiten und Getränke. Gleich am Eingang befindet sich ein Ständer mit Äpfeln von hiesigen Streuobstwiesen. Die 10 000 Einwohner zählende Stadt im Stuttgarter Speckgürtel hat sicher nicht das klassische Bild-Publikum. Wobei es Petra Oberst auch nicht vordergründig um das Springer-Blatt geht. „Es geht mir auch um die Berichterstattung im Fernsehen, aber die kann ich hier nicht boykottieren“, sagt die Rutesheimerin, die die Berichterstattung der Zeitung opportunistisch nennt.

„Ich möchte keine Bilder von Menschen sehen, wo ‚Massenmörder’ daneben steht und darüber ‚Jetzt spricht die Ex’.“ Als sie jung war, hat sich ihre Mutter umgebracht. „Wenn ich mir vorstelle, da wäre alle fünf Minuten jemand mit einer neuen Theorie gekommen . . .“ erzählt sie und lässt den Satz unvollendet. Dass die Berichterstattung zum Unglück auf dem Rücken der trauernden Angehörigen ausgetragen wird, finden Petra und Kai Oberst unerträglich. „Wissen Sie, für mich zählt der Mensch. Deswegen verkaufe ich auch keine Zigaretten, sondern Äpfel“, sagt Petra Oberst entschlossen. Heute trägt sie ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Leonberger Tafel“. Auch sonst setzt sie sich für andere ein, sammelte im vergangenen Jahr am alten Filialstandort kistenweise Spenden für die Tafel. Auch den Bild-Boykott will sie mit etwas Gutem verbinden. „Ich nehme den Mittelwert meiner Einnahmen aus dem Bild-Verkauf und spende es dem Verein MS Faces and Words.“ Der Rutesheimer Verein engagiert sich für Menschen mit Multipler Sklerose. Auch auf Facebook hat sie die Spendenaktion beworben. „Ein Nutzer hat gestern bereits 100 Euro gespendet“, freut sie sich. „Wenn der Bild-Chef Kai Diekmann was wäre, würde er auch für den Verein spenden.“