Acht Monate hat Jennifer Engel in einer Klinik mitten in den Slums gearbeitet. Dabei hat die 35-Jährige unvorstellbare Not, aber auch große Dankbarkeit erlebt. Als Deutsche wurde sie permanent von Leibwächtern geschützt.

Leonberg/Nairobi – Am meisten habe ich die Menschen vermisst“, sagt Jennifer Engel, „meinen Lebensgefährten und meine Eltern. Und ordentliches Brot.“ Die Fachärztin für Innere Medizin und Lungenfachkunde aus Leonberg ist vor wenigen Tagen aus Kenia heimgekehrt, wo sie für Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières/MSF) ein Tuberkulose-Projekt übernommen hatte.

 

Acht Monate hat sie in der Green House Klinik in Mathare, einem der größten Slums Nairobis, Tuberkulose-Patienten betreut. In Mathare leben weit mehr als 500 000 Menschen auf engstem Raum, in winzigen, oft fensterlosen Wellblechhütten, ohne Strom und Wasser.

„Jährlich sterben weltweit eine halbe Million Menschen an Tuberkulose“, erklärt die Ärztin. „Auch aus Deutschland ist diese Krankheit noch lange nicht verschwunden. Es wird nur nicht darüber geredet.“

Sie weiß, wovon sie spricht, denn vor ihrem Einsatz für MSF hat sie in der hiesigen Klinik Schillerhöhe praktiziert, die zum Robert-Bosch-Krankenhaus gehört. Auch hier gibt es Patienten mit der ansteckenden Krankheit, doch: „Hierzulande muss niemand an TB sterben, die entsprechenden Medikamente stehen zur Verfügung.“

Ganz anders in ihrem Einsatzland Kenia: „Das Gesundheitssystem ist nicht gut entwickelt, es fehlt an Strukturen, überhaupt Medikamente vom Weltmarkt zu beziehen. Und wenn Medikamente da sind, bleibt das Problem der Korruption.“

Auch damit hat sie Erfahrungen gesammelt: „Die Patienten werden in der Klinik in Mathare kostenlos behandelt, sie müssen weder für die Behandlung noch für die Medikamente bezahlen. Wenn weiterführende Untersuchungen wie Röntgenaufnahmen oder ein CT nötig sind, bekommen die Patienten von uns eine Art Krankenschein für die Fachklinik. Weil die Patienten wissen, dass sie für die Behandlung nichts bezahlen müssen, werden ihnen oftmals fiktive Gebühren abgeknöpft.“

Es ist ein anderes Leben gewesen in Kenia. Kein Schritt außerhalb ohne Wachmann, kein Ausflug ohne Begleitschutz. „Das war schon eine riesige Einschränkung“, sagt Jennifer Engel. „Nicht mal eine Banane konnte ich allein einkaufen, obwohl der Stand nur ein paar Schritte von der Klinik entfernt war.“ Die Kleidung mit dem Logo von MSF schützt die Mitarbeiter zwar weitgehend, aber die Gefahr eines Überfalls ist dennoch zu groß.

Doch auch das ist ein kleiner Preis für eine große Aufgabe: „Ich hatte schon immer den Wunsch, mit Ärzte ohne Grenzen zu arbeiten“, erzählt die 35jährige. „Deshalb habe ich mich riesig gefreut, als ich vor acht Monaten nach Kenia aufbrechen konnte.“ Sie hatte sich explizit für ein Tuberkulose-Projekt beworben, denn: „Mit meiner Spezialisierung kann ich bei solch einem Projekt am effektivsten helfen.“

Dass sie nach Kenia kam, war Zufall. Und ein bisschen mulmig war ihr schon dabei. „Ich war mir nicht sicher, ob ich die acht Monate gut überstehe“, gibt sie unumwunden zu. Doch sie hatte Glück: Ihre Unterkunft entpuppte sich als freundlich eingerichtetes Häuschen mit angenehmen Mitbewohnern und eigenem Zimmer: „Da wusste ich, alles ist gut, hier kann ich die kommenden acht Monate bleiben.“ Sie lässt ihr ansteckendes Lachen hören.

Die Kollegen und die Mitarbeiter haben sie herzlich aufgenommen, und von den Patienten hat sie viel zurückbekommen: „Ich habe vorher noch niemals erlebt, dass Menschen, denen es in vielerlei Hinsicht schlecht geht, so geduldig und so dankbar sind.“ Ihr schmales Gesicht wird ganz ernst.

„Oft leiden die Menschen hier an resistenten Formen der Tuberkulose. Das heißt, sie brauchen extrem starke Medikamente, und die haben schlimme Nebenwirkungen.“ Die Patienten kommen jeden Tag in die Klinik, und das über einen Zeitraum von 20 Monaten. Sie nehmen täglich ihre Medikamentendosen ein und ertragen Erbrechen, Durchfall, Depressionen und müssen mit Schädigungen des Sehnervs, des Innenohrs oder der Leber rechnen.

Nicht nur aus Kenia stammen die Patienten. Viele Somalier kommen über die Grenze und lassen sich in der Green-House-Klinik behandeln. „In Somalia ist das Gesundheitssystem komplett zusammengebrochen, da gibt es für die Betroffenen keine Hilfe. Also kommen sie nach Kenia.

Das soziale Netz funktioniert, die Somalier finden hier ganz selbstverständlich Unterschlupf, zum Beispiel bei weitläufigen Verwandten, die sie noch nie gesehen haben.“ Das hat die Ärztin beeindruckt.

Die Heilungsrate der Klinik liegt bei rund 80 Prozent. Das ist auch ein Verdienst der Strukturen, die MSF aufgebaut hat. Medizinische Standards werden strikt eingehalten, die Patienten werden detailliert über ihre Krankheit, die Therapie und die Nebenwirkungen aufgeklärt, sie bekommen täglich Unterstützung durch Sozialarbeiter und Klinikpersonal.

„Die Krankheit stigmatisiert die Menschen, sie erzählen oft niemandem von der Diagnose. Sie fürchten, ausgegrenzt zu werden“, erzählt Jennifer Engel. Umso mehr beeindruckt sie manches Einzelschicksal, etwa das von Elizabeth Wangeci.

Die Lehrerin leidet an einer extrem resistenten Form der Tuberkulose, konnte wegen der Nebenwirkungen der Behandlung nicht mehr arbeiten. Und hat ein Tabu gebrochen: sie spricht offen über ihre Krankheit, auch außerhalb der Familie.

Sie bloggt über ihre Behandlung und versteckt sich nicht. „Sie ist eine unglaublich starke Persönlichkeit“, ist Jennifer Engel beeindruckt. Und hat nicht nur Elizabeth, sondern auch deren dreijährigen Sohn John ins Herz geschlossen.

Deshalb ist ihre Antwort auf die Frage, was sie – wieder zu Hause – am meisten vermisst, die gleiche wie auf die Frage, was sie in Kenia am meisten vermisst hat: „Die Menschen.“