Wer bekommt den letzten Sitzplatz – und wer muss stehen? Zur Hauptverkehrszeit um 17 Uhr ist es in der S-Bahn zwischen Stuttgart und Leonberg am hektischsten. Eindrücke von einer Heimfahrt.

Leonberg - Es ist 17.03 Uhr, die große Uhr am Turm des Hauptbahnhof-Turmes zeigt es exakt an. Einige Meter weiter unten, der S-Bahnsteig der S 6 nach Leonberg. Dicht an dicht stehen die Pendler, der Kampf um jeden Millimeter ist eröffnet, hektische Blicke, verstohlene Ellbogen. Es ist Rush Hour, Hauptverkehrszeit. Und natürlich ist die S-Bahn mal wieder zu spät. Aber das zu erwähnen ist obsolet – genauso gut könnte man über den grauen Himmel in diesen Tagen schreiben.

 

Christian Heinz (37) aus Weil der Stadt ist ein erfahrener Pendler. „Ich fahre seit elf Jahren die Strecke“, sagt er etwas schicksalsergeben. Er arbeitet bei einem großen Energieversorger, eine Stunde braucht er von Haustür zu Haustür. Theoretisch. „Tatsächlich ist es das nie“, schmunzelt er und lauscht den Durchsagen. „Vorsicht an Gleis 101“, schallt es aus den Lautsprechern. Aber es ist nur das Gegengleis, mit der Durchsage: „Zug nach Schwabstraße fährt ein.“ Falsche Richtung.

Wow - nur 6 Minuten zu spät

Endlich, es quietscht im S-Bahn-Tunnel, mit pünktlichen sechs Minuten Verspätung trifft die S 6 ein. Das dunkle Band aus schwarzen Mänteln und hellen Gesichtern wiegt vor und zurück. Die Cleveren stellen sich an die weißen Striche für die Sehbehinderten, dort geht nämlich gleich die Tür auf.

Christian Heinz ist sturmerprobt, er räumt seinen Platz nicht, trotz vorgeschobener Aktenkoffer. Eine rothaarige Dame ist besonders resolut. Mit einem stöhnenden „Uaaaah“ schiebt sie einige Unvorsichtige beiseite. Zack, die Türen sind offen. Jene, die aussteigen wollen, kommen kaum heraus, müssen sich fast gewaltsam einen schmalen Grat schlagen. „Erst uns rauslassen“, schimpft einer, wird aber von den stumpfen Mienen glatt ignoriert.

Schieben und Drängeln

Nur rein, rein, rein, damit es zum Sitzplatz reicht. Andreas Hirth, ein 48-jähriger Weissacher, hat sich schon ganz hinten ans Ende des Zuges gestellt – da ist das Gedränge weniger dicht. „Jeden Tag das Gleiche, alle steigen in der Mitte ein“, sagt er lächelnd, auf seinem Sitzplatz mit Fenster. Endlich rollt der Zug an. Die Hälfte der Stehenden kippt fast um, die Fliehkraft ist unerbittlich. Station für Station das gleiche Bild. Gedränge, Geschiebe. Andreas Hirth ist froh über seinen Sitzplatz, eigentlich liest er um diese Zeit die Leonberger Kreiszeitung. Heute aber nicht: ab der Haltestelle Feuerbach gibt es kein Licht mehr. „Die Bahn muss wohl Geld sparen“, meint er mit stoischer Ruhe. Der Licht-Aus-Effekt kommt derzeit häufiger vor, dafür funktionieren die Schiebetüren jetzt endlich besser.

Bei Porsche in Zuffenhausen drängt ein Pulk von Ingenieuren herein. Aber wenigstens steigen jetzt auch schon ein paar aus. Man hat dennoch das Gefühl, dass der Wagen platzen würde, wenn noch mehr einsteigen. Der Nebensitzer hört laut Musik über den iPod. „Sun Goes Down“ von dem unvermeidlichen DJ Robin Schulz, aktuell Platz eins. Nervt aber trotz der Riesen-Kopfhörer, die seit ein paar Jahren unerklärlicherweise Trend sind.

Korntal: es wird irgendwie leerer, wir sehen zumindest die Anzeigetafel wieder. Auch das Licht entscheidet sich, wieder zu glimmen, was spontan Beifall in der S-Bahn auslöst. Andreas Hirth kann jetzt den Rest der Tageszeitung lesen. „Nächste Woche kaufe ich mir ein iPad, das hat selbst Licht“, schmunzelt er. Dann endlich der Leonberger Bahnhof. Jetzt wird es schon wieder hektisch. Alle wollen zuerst am Ausgang stehen. Die Bahn wird langsamer, rollt und rollt. Dann gehen die Türen erst nicht auf. „Das nervt, das nervt“, brummelt einer.

Wir steigen aus. Andreas Hirth und Christian Heinz müssen noch weiter und hoffen, dass der Anschlussbus wartet. Uff, heraus aus der drangvollen Enge. Das kostet ganz schön Nerven. Aber – Hand aufs Herz – würden wir im Stau stehen, würden wir genauso laut schimpfen . . .