Ditzingen: Das Tor zur Großstadt

Wer hier vorbeifährt, kann die riesige Baustelle nicht übersehen. Am Stadteingang von Ditzingen baut die Rutesheimer Familie Bolay einen neuen Baumarkt. Genau deswegen: weil man hier einfach vorbeifahren muss. Und so zieht sich durch die Kommune ein dickes Asphaltband. Wie chaotisch es da manchmal zugeht, wenn beim Rüstungskonzern Thales Schichtwechsel ist, davon kann Yannis Zouflekis, 58, ein Lied singen.

Er ist seit 20 Jahren Taxifahrer, aber so etwas kennt er nicht von früher. „Ich stehe ständig im Stau, hier geht gar nichts mehr“, sagt er und schaut verzweifelt auf das mobile Navigationsgerät. „Alle Räder stehen still, wenn der Autogott es will“, kalauert Zouflekis. Eigentlich sollte hier eine neue Autobahn-Ausfahrt gebaut werden, doch der Nachbar Gerlingen sperrt sich. Das ist Politik, doch zur Zeit wühlen sich die Autos von Ampel zu Ampel, bis endlich die Autobahn sichtbar wird. Es ist nach Renningen das zweite Rendezvous der B 295 mit einer Schnellstraße. Auch danach bleibt sie vierspurig mit Mittelleitplanken. 25 000 Autos schlängeln sich am Tag durch.

Die Autobahn ist hier das Ziel – oder die nahe Großstadt. Nicht nur Thales nutzt diese Transitstrecke, einen Ort weiter in Weilimdorf sitzt das Beratungsunternehmen Ernst Young. Er wird demnächst an einen noch quirligeren Brennpunkt zieht: an den Stuttgarter Flughafen.

Welch ein Kontrast schon hier zum Schwarzwald. Konnte man sich bei Simmozheim an einem sonnigen Nachmittag minutenlang ungestört auf die Straße stellen, wäre man hier nicht einmal mehr in der Lage, sie gefahrlos zu überqueren.

Althengstett: Streit um die Hesse-Bahn

Ländlich-idyllisch geht es weiter. Althengstett liegt in einer herrlichen Landschaft, mit gelben Kornfeldern und tiefdunklen Bäumen. Der Ort war der Startschuss für ein großes Konkurrenzprojekt zur B 295 – der Hermann-Hesse-Bahn von Calw nach Renningen. Hier ist der grüne Minister Winfried Hermann 2013 mit dem Rad entlang gefahren, und hat danach verkündet: „Dieses Bahnprojekt ist das Wichtigste in ganz Baden-Württemberg.“ Es folgte jahrelanger Streit, und eine Einigung. Die Hesse-Bahn wird bald gebaut. Doch bis dahin ist die Bundesstraße die einzige schnelle Verbindung. Lastwagen donnern vorüber. Ein einsames Motel bietet Brummifahrern oder Touristen Rast über Nacht. Silvia Kissling, die Inhaberin, ist freundlich und hat ein offenes Ohr für jeden Besucher. 39 Euro kostet hier die Nacht.

Die Blechlawine hat aber auch Schattenseiten. Eine besonders tragische ist kurz nach Althengstett zu sehen: Es ist ein kleines Kreuz am Straßenrand zwischen Neuhengstett und Simmozheim. Jerome Petro steht darauf. Auch das gehört zur B 295 – tödliche Unfälle nach riskanten Überholmanövern. Es war der 4. März 2006, ein Fahrer überholt auf schneeglatter Fahrbahn, stößt mit einem Linienbus zusammen. Welches Schicksal sich damit verbindet? Ein unbedachter Moment, und das Leben einer ganzen Familie ändert sich von einem Tag auf den anderen.

Achtlos rauschen die Autos an dieser kleinen Gedenkstelle vorbei. Ein Steinkranz, frische Blumen und eine Grabkerze in einer blauen Laterne halten die Erinnerung wach. Auch nach neun Jahren pflegen die Angehörigen diesen Platz. Immer wieder gibt es tödliche Unfälle auf der Straße durch Überholmanöver – dieses Kreuz ist ein Mahnmal an alle.

Weil der Stadt: Die umgelegte Straße

Wie herrlich diese Landschaft sich im Heckengäu schlängelt. Atemberaubend schöne Täler. Die Bundesstraße zerschneidet diese Idylle schnurgerade. Weil der Stadt taucht auf mit ihrer imposanten Brenzkirche und der Fachwerkkulisse. Die B 295 ist hier früher durch die Stadt gelaufen, hat die historischen Häuser vom Rest zerschnitten. Daher wurde das Asphaltband hier verlegt, gezähmt, Südumfahrung nennt sich das im Verwaltungsdeutsch.

Und so läuft der Verkehrsstrom heute um die Stadt. Ein Kreisverkehr lenkt die Automassen, entweder in die malerische Heimatstadt von Johannes Kepler, die verstärkt um Touristen wirbt und ihren Marktplatz beleben will. Oder den Berg hinaus. Lärmschutzwände schützen die Bürger vor dem Krach – ein erstes Zeichen der Urbanität. Hier nimmt die Zahl der Autos zu, es wird bergauf kurz dreispurig. Noch ist die Straße im ländlichen Gewand, aber die Beschleunigung des Ballungsraumes wird spürbar.

Von Renningen bis nach Leonberg

Renningen: Ein Leuchtturm und viel Krach

Vor 20 Jahren war es in der schönen Landschaft hier noch ziemlich ruhig. Jetzt ist alles in Bewegung. Die B 295 wird hier dreispurig. Die Kreuzung mit der B 464 von Sindelfingen führt direkt zu dem Daimlerwerk. Lückenschluss nennt sich diese Begegnung zweier Straßengiganten, der 30 000 Fahrzeuge am Tag durchschleust. Hier trifft die B 295 auf die B 464, die zu Sindelfingen und dem Daimlerwerk führt. Auch hier wird seit Jahren politische gestritten: Sollen hier große Kreisverkehre und Rampen eine Art Ersatzsautobahn bilden, oder führt das erst recht zum Verkehrskollaps?

Am Horizont blinkt in der Julisonne das neue Wahrzeichen der Region: Der 60 Meter hohe Bosch-Turm, das Hochhaus des Entwicklungszentrums für 5000 oder später vielleicht sogar 7000 Ingenieure. Das verändert die Landstadt Renningen. Die Bundesstraße ächzt unter dieser Last.

Wer auf der Brücke beim Renninger Naturtheater steht, kann dieses Ächzen hören – und fühlen, wenn das Geländer vibriert. Hier ist die Bundesstraße mehr als ein Teerband durch gelbe Kornfelder, dunkle Waldstreifen, sie ist Teil eines Straßensystems, das an seine Grenzen gelang ist. Das Wohngebiet Kindelberg liegt direkt an der Straße. Gerd Schenk, 70, hört den Lärm auch, wenn die Fenster zu sind. Er kämpft seit 30 Jahren für Schutzwände, zusammen mit Wilhelm Schumm. Bürgerinitiativen haben sich gegründet, sie fordern einen durchgehenden Lärmschutz entlang der Bundesstraße. Immerhin gibt es jetzt seit neustem ein Tempolimit von 70 – aber nur bergauf.

Leonberg: Der Weg zum Einkaufen

Das Leonberger Dreieck der Autobahnen A 8 und A 81 trifft an der Ausfahrt Leonberg-West auf die B 295, einer der am meisten belasteten Knotenpunkte der Region. Hier ist alles vierspurig, die Bundesstraße aus dem Schwarzwald verliert endgültig ihre Unschuld. 40-Tonner, Transporter, Motorräder und rasende Kleinwagen donnern über sie. Doch dann nimmt die B 295 eine ruhigere Wendung, wird zur entlastenden Umgehungsstraße.

Und führt dann geradewegs in eine Kette von Einkaufsparadiesen, vom riesigen Möbelhaus Hofmeister über das Kaufland und schließlich in die Neue Mitte Leonbergs. Die Bundesstraße ist hier eine freundliche Umrahmung für das Leo-Center – eines jener vielen Shoppingcenter, die Leben in die Mittelstädte rund um Stuttgart bringen. Es ist sozusagen auch ein Wahrzeichen des „Altkreises“, wie die Gegend rund um Leonberg genannt wird. Früher war das der Kreis Leonberg, der durch die Kreisreform zerschnitten und auf drei Kreise aufgeteilt wurde. Die Kundschaft im Leo-Center bildet aber genau diesen Lebensraum ab – und hält so den Zusammenhalt lebendig.

Andreas Bürle, 45, wohnt in Althengstett, fährt aber jeden Tag nach Leonberg zur Arbeit und kauft in der Mittagspause im Leo-Center ein. „Das hat hier urbanes Flair“, meint er, und schlürft an seiner Latte Macchiato. Manchmal macht er auch Halt am lauschigen Marktplatz mit seinen Fachwerkhäusern. Er kommt gerne hier her – und freut sich auch über liebevolle Fachgeschäfte in der Altstadt.

Die Bundesstraße verläuft hier mitten durch die Stadt, an der Brache der ehemaligen Leo-Bau, wo bald neues Stadtleben erblühen könnte. Dann wäre der alte Glanz, der Leonberg durch die Leonberger Bausparkasse bundesweit erleuchtet hat, zumindest zum Teil wieder hergestellt. Das Rathaus der Kommune wird schon neu gebaut, das alte wird abgerissen. Es tut sich etwas entlang der Bundesstraße. Hier ist die B 295 Stadtautobahn, später am Berg ein Nadelöhr, an dem sich alles staut. Das alte Kino der Grabenstraße zeugt ebenfalls von vergangenem Glanz, ein neues entsteht an der Autobahn.

So zeigt die 295 hier ihr freundliches Gesicht, ist gezähmt und schön umfasst in der sanierten Grabenstraße. Fast eine Flaniermeile.

Ditzingen und der Weg nach Feuerbach

Ditzingen: Das Tor zur Großstadt

Wer hier vorbeifährt, kann die riesige Baustelle nicht übersehen. Am Stadteingang von Ditzingen baut die Rutesheimer Familie Bolay einen neuen Baumarkt. Genau deswegen: weil man hier einfach vorbeifahren muss. Und so zieht sich durch die Kommune ein dickes Asphaltband. Wie chaotisch es da manchmal zugeht, wenn beim Rüstungskonzern Thales Schichtwechsel ist, davon kann Yannis Zouflekis, 58, ein Lied singen.

Er ist seit 20 Jahren Taxifahrer, aber so etwas kennt er nicht von früher. „Ich stehe ständig im Stau, hier geht gar nichts mehr“, sagt er und schaut verzweifelt auf das mobile Navigationsgerät. „Alle Räder stehen still, wenn der Autogott es will“, kalauert Zouflekis. Eigentlich sollte hier eine neue Autobahn-Ausfahrt gebaut werden, doch der Nachbar Gerlingen sperrt sich. Das ist Politik, doch zur Zeit wühlen sich die Autos von Ampel zu Ampel, bis endlich die Autobahn sichtbar wird. Es ist nach Renningen das zweite Rendezvous der B 295 mit einer Schnellstraße. Auch danach bleibt sie vierspurig mit Mittelleitplanken. 25 000 Autos schlängeln sich am Tag durch.

Die Autobahn ist hier das Ziel – oder die nahe Großstadt. Nicht nur Thales nutzt diese Transitstrecke, einen Ort weiter in Weilimdorf sitzt das Beratungsunternehmen Ernst Young. Er wird demnächst an einen noch quirligeren Brennpunkt zieht: an den Stuttgarter Flughafen.

Welch ein Kontrast schon hier zum Schwarzwald. Konnte man sich bei Simmozheim an einem sonnigen Nachmittag minutenlang ungestört auf die Straße stellen, wäre man hier nicht einmal mehr in der Lage, sie gefahrlos zu überqueren.

Es geht Richtung Feuerbach. Ihr ländliches Gewand hat sie hier endgültig abgestreift, jetzt taucht sie gleich ein in den Dschungel der pulsierenden Großstadt.

Feuerbach: Angekommen im urbanen Kosmos

Die Ampeln bestimmen den Rhythmus des Kreislaufs. Die B 295 ist am Pragsattel an ihrem Ende angekommen. Ein vierspuriger Highway, das Nadelöhr der Landeshauptstadt. Staut sich hier der Verkehr, staut er sich meistens überall. 110 000 Fahrzeuge am Tag. Die Zahl wird anschaulich, wenn man an der Kreuzung nach der Mercedes-Bank als Fußgänger die Fahrbahn überqueren will. Stoßstange an Stoßstange, es qualmt aus tausend Auspuffen. Der Blick auf die Weinberge mag lauschig sein, aber hier zeigt sich Stuttgart noch als autogerechte Stadt.

Heinrich Bungert trägt ein feines Jackett und ein weißes Hemd. Der 62-Jährige und seine Frau haben sich schick gemacht, schlendern den Gehsteig unter den Bäumen entlang. Sie wollen an diesem Abend ins Theaterhaus, das spätestens seit seinem Umzug und dem Hineinwachsen der 68er in bürgerliche Verhältnisse von der Subkultur zur anspruchsvollen Massenkultur wechselte. „Wir sind jeden Monat hier“, sagt der Vorruheständler Bungert. Früher ist er als Pendler täglich die B 295 gefahren. „Über die Jahre waren es 4485 Stunden Stau.“ Er hat Buch darüber geführt. Er hat hier gewartet und gelitten, die anderen Autofahrer verflucht, die Minuten gezählt. Und doch vermisst er „seine“ Stammstrecke etwas, sie ist ihm zur Gewohnheit geworden. So freut sich Bungert sich, wenn er sie wieder mal fahren darf.

Die B 295 ist am Ziel. Autohändler säumen den Rand. Am Eingang von Feuerbach schon wieder Bosch und das alte Fahrion-Gelände. Aufstieg und Untergang, Industrie und Kultur, Zubringer und Handelsort, Zeuge tragischer Unfälle, täglicher Weg für Pendler und Radfahrer – hier ist die Bundesstraße alles.

Vierspurig rast sie in die heiße Stadt, ist ein Ort ständiger Begegnung, trägt ihre temporären Bewohner aus dem ländlichen Raum in den urbanen Kosmos. Und morgen wird sie uns wieder an den Arbeitsplatz, zu unseren Liebsten oder zum Freizeitvergnügen bringen.