Heinrich Haßler gehörte zu den letzten deutschen Kriegsgefangenen, die 1955 aus der ehemaligen Sowjetunion in die Freiheit entlassen wurden. In einem Massenprozess war er zu 25 Jahren Straflager verurteilt worden.

Leonberg - Heute wäre Heinrich Haßler 100 Jahre alt geworden, doch gegönnt war ihm nur gut die Hälfte. Davon wurden dem Leonberger mehr als ein Viertel vom Krieg und der anschließenden Gefangenschaft geraubt. Und doch gehörten Heinrich Haßler und seine Familie zu den Glücklichen. Denn er konnte als einer der „letzten Zehntausend“ in die Heimat zurückkehren – im Gegensatz zu etwa 1,3 Millionen verstorbenen und vermissten Gefangenen des Zweiten Weltkrieges in der ehemaligen Sowjetunion.

 

Fast jeder Leonberger, der älter als 65 ist, erinnert sich an den 11. Oktober 1955. Die Glocken der Stadtkirche läuteten ununterbrochen, der Alltag im Ort war aus den Fugen geraten. Wer nur konnte, kam mit Kind und Kegel. Vom Ortseingang an der Ditzinger Straße, der heutigen Feuerbacher Straße, bis auf den Marktplatz standen die Menschen Spalier. Unter dem Jubel der Menge bog der Mercedes von Fritz Trucksäß in die Altstadt ein. Der alte Herr, einer der Mitinhaber der Maschinenfabrik Stohrer, hatte es sich auch mit 81 nicht nehmen lassen, den Wagen selbst zu fahren. Er wollte „seinen“ Heinrich Haßler, der früher als technischer Zeichner in der Firma gearbeitet hatte, selbst heimholen. Bürgermeister Otto Rexer, der Stadtpfarrer und Vertreter des Turnvereins, begrüßten Heinrich Haßler und seine Familie.

Keine ruhige Minute mehr nach dem Telegramm

„Es war Sonntag, kurz nach 18.30 Uhr, als ein Postbote mit einem Telegramm für meine Mutter vor unserer Tür in der Ditzinger Straße stand“, erinnert sich Fred-Gustl Haßler. „Endlich frei herzlichen Gruß Ankunft voraussichtlich Montagabend Kuss Dein Heinerle“, stand in Großbuchstaben drin. Von nun an habe es keine ruhige Minute gegeben. Der Vater, den er nie bewusst gesehen hatte – denn bei seinem letzten Urlaub als Soldat war der am 28. August 1943 geborene Fred-Gustl noch ein Baby gewesen – kommt heim.

Doch es sollte dann doch Dienstag werden, bis der Vater aus dem mehr als 400 Kilometer entfernten Grenzdurchgangslager Friedland mit dem Zug in Stuttgart eintraf. „Ich war zwölf Jahre alt, als ich dem Mann gegenüberstand, den ich nur von Bildern und aus Erzählungen der Mutter, der Großeltern und Verwandten kannte“, sagt der 74-Jährige. Bis dahin sei er wie all die anderen Kinder auch ohne Vater aufgewachsen, in der Obhut der Großmutter, weil die Mutter als Verkäuferin in Stuttgart Geld verdienen musste.

Großmutter hält bis zur Umarmung durch

Mit der Haßler-Großmutter sei das ganz eigenartig gewesen, erinnert sich Fred-Gustl. Sie sei kränklich gewesen, habe sich aber immer wieder aufgerafft. Sie sagte, sie habe zwei Söhne verloren, aber einer lebe noch, da müsse auch sie weiterleben. „Die Tanten haben später immer erzählt, nachdem die Großmutter Vater in den Armen gehalten hatte, hat sie abgeschaltet und dem Kampf aufgegeben und ist kurz darauf gestorben“, erzählt Enkel Fred-Gustl.

„Während mein Bruder in seinen ersten zwölf Jahren auf den Vater verzichten musste, hatte ich das Glück, dass er meine ersten zwölf Jahre begleitet hat“, sagt die am 25. September 1956 geborene Monika Haßler, verheiratete Grau. Mit den Kindern habe der Vater nie über den Krieg und die Gefangenschaft gesprochen. Doch wenn er mit ehemaligen Leidensgenossen am Tisch saß und sie über das Erlebte sprachen, hätten sie als Kinder mucksmäuschenstill im Hintergrund gelauscht und so Einiges aus dem leidvollen Schicksal erfahren, so Monika Grau.

Monatlich nur eine Postkarte

In Gefangenschaft geriet der Fallschirmjäger Heinrich Haßler im Spätherbst 1944 irgendwo im heutigen Tschechien. Weil er und ein Kamerad von Osten her auf GIs zukamen, haben diese die beiden an Rotarmisten übergeben. Das erste Lebenszeichen aus der Gefangenschaft, das seine Frau Ruth Haßler erreichte, war eine Karte des Roten Kreuzes im Februar 1946. Die war bereits im November 1945 abgeschickt worden. Und diese eine monatlich erlaubte Karte sollte bis im Spätherbst 1955 die einzige Verbindung zur Familie bleiben.

Die erste Station des Gefangenen war der Wiederaufbau von Stalingrad, wo er als Maurer arbeitete, weil er verschwieg, dass er technischer Zeichner ist. Seine nächste Station war Woronesch, wo er um das Jahr 1949 in einem Massenprozess zum Kriegsverbrecher erklärt und zu 25 Jahren Straflager verurteilt wurde. Er kam nach Swerdlowsk im Donezbecken, das bis 2014 zur Ukraine gehörte und jetzt von Separatisten der „Republik Lugansk“ besetzt ist.

„Den Weg zurück in eine Welt, die für ihn völlig fremd war, haben meinem Vater die Wiedereinstellung als technischer Zeichner bei Stohrer und sein geliebter Turnverein, der TV 1849 Leonberg, erleichtert“, sagt Monika Grau. Doch ohne Spuren sind fast zwölf Jahre Straflager mit ihren ungeheuren Entbehrungen nicht vorbeigegangen. Wie sich herausstellte, hatten die Mangelernährung und die Strapazen das Hirn geschädigt. Heinrich Haßler entwickelte Psychosen, in denen er von russischen Soldaten immer wieder weggesperrt wurde. Am 28. November 1968 ist Heinrich Haßler mit 51 Jahren gestorben.