Wolfgang Reznicek hat genau festgehalten, wann er wie viele Minuten auf dem Bahnhof hat warten müssen. In einem Jahr sind rund 23 Stunden zusammen gekommen. Dabei hat er nur die Verspätungen ab zehn Minuten erfasst.

Gärtringen - In BB sieben Minuten verspätet. Weichenstörung. Weitere sechs Minuten Aufenthalt wegen Überholung. Verlust 13 Minuten. 27. April 2017, 17.59, S 1“ – so lautet der jüngste Eintrag von Wolfgang Reznicek. In seinem iPhone hält der S-Bahn-Pendler die Vorkommnisse auf dem Weg zur Arbeit fest. Ein komplettes Protokoll liegt vom vergangenen Jahr vor. Insgesamt 1362 Minuten, also fast 23 Stunden errechnete er, hat er warten müssen. Verspätungen von weniger als zehn Minuten erfasste er erst gar nicht. Und auch in diesem Jahr notiert der Gärtringer größere Zeitverluste, die sich vor allem beim Umsteigen in Böblingen ergeben. „Ich dachte, es wird besser. Aber bisher geht es offenbar weiter wie bisher“, sagt der 51 Jahre alte Ingenieur und Projektentwickler für Bahnsignaltechnik, der in Ditzingen (Kreis Ludwigsburg) arbeitet.

 

Wenn Wolfgang Reznicek zehn Minuten vor sieben Uhr in Gärtringen in die S 1 Richtung Böblingen steigen kann, ist für ihn die Welt noch in Ordnung. Die S-Bahn zwischen Herrenberg und Böblingen fährt im 15-Minuten-Takt. Wenn jedoch der Regionalexpress Verspätung hat, der Vorrang genießt, müssen die S-Bahn-Gäste warten und die S 1 kommt nicht pünktlich in Böblingen an. Für die Pendler, die einen Anschluss an die S 60 brauchen wie Wolfgang Reznicek, ist eine Verspätung der S 1 also gravierend.

Die Umsteigezeit beträgt nur knapp vier Minuten

Wenn der Gärtringer in Böblingen eintrifft, ist die Bahn mitunter schon abgefahren. Die Umsteigezeit in die S 60 beträgt kaum vier Minuten. Und weil die S 60 lediglich im 30-Minuten-Takt verkehrt, kann es sich Wolfgang Reznicek auf einer Bank eine halbe Stunde gemütlich machen mit seiner Lektüre.„Ich fahre Bahn, weil ich dabei lesen kann“, sagt der Gärtringer, der seit Sommer 2015 mit der Schiene Vorlieb nimmt, um über Renningen an seinen Arbeitsort zu kommen. Zuvor war er im Ausland tätig. Er hat ein VVS-Jahresticket, das mit Firmenrabatt rund 1500 Euro kostet. Eine Stange Geld dafür, dass er alle paar Tage Ärger hat.

Auf der Rückfahrt von Ditzingen nach Gärtringen, die der 51-Jährige je nach Feierabend zwischen 16 und 19 Uhr antritt, sind es häufig Signal- oder Fahrzeugstörungen, die den Fahrbetrieb lähmen. „Oder es heißt auf der Anzeigetafel ,Person im Gleis’“. Auch das hat Wolfgang Reznicek schon notiert, dann gehe meist lange Zeit nichts mehr. Und in Böblingen stoßen die S-Bahn-Gäste, die in die S 1 wollen, womöglich wieder auf einen Regionalexpress, der vor gelassen werden muss – und sie verpassen erneut ihren Anschluss.

Über eine andere Fortbewegungsmöglichkeit hat er natürlich auch schon nachgedacht. Aber sein Auto will er – zumindest vorerst – nicht nutzen, um zur Arbeit zu kommen. Morgens wäre er vielleicht sogar schneller am Ziel, doch nachmittags und am frühen Abend müsste er mit erheblichen Verkehrsbehinderungen rechnen. Mit der S-Bahn weiß er: Wenn das Umsteigen klappt, ist er auf einer Strecke 47 Minuten unterwegs. Kleinere Verzögerungen hält Reznicek nicht fest. „Es ist normal, ein paar Minuten zu warten“.

Würde er alle Verspätungen berücksichten, kämen im Jahr noch einmal mindestens 200 Minuten hinzu, meint er. Als es im vorigen Jahr zwischen Stuttgart-Rohr und Böblingen auf der Bahnstrecke eine Baustelle gab, fuhren viele Züge unpünktlich oder gar nicht. Das fiel zum Glück in Rezniceks Urlaubszeit. Sonst wäre sein Jahresprotokoll noch umfangreicher ausgefallen.

Es gibt mehr Fahrgäste, doch die Probleme bleiben

„Einmal „kam es zum Super-Gau“, erinnert sich der Gärtringer. Als in Stuttgart eine Fliegerbombe entschärft wurde und die Bahnstrecken gesperrt werden mussten. Auch Böblingen war davon betroffen. „Es gab keine Anzeige. Kein Bus fuhr“, sagt der 51-Jährige. Er machte sich zu Fuß auf den Weg nach Hause.

„Die Verantwortlichen sonnen sich darin, dass sie immer mehr Fahrgäste haben. Doch die Probleme werden nicht beseitigt“, prangert Wolfgang Reznicek an. Er schrieb dem Verkehrs- und Tarifverbund (VVS). Es müsse doch erlaubt sein, bei Störungen auf alternative Strecken kostenlos ausweichen zu können. Momentan müsse er, wenn er über Stuttgart fahren würde, für mehrere Zonen nachlösen. Die VVS antwortete ihm, dass bei Streckensperrungen auf solche Alternativen hingewiesen werde. Bei kurzfristigen Störungen jedoch sei dies „nicht praktikabel, da die Dauer nicht prognostiziert werden kann“. Zudem räumte die VVS ein: „Störungen durch technische Defekte wird man nie ganz vermeiden können.“

Die Umsteigedauer zu verlängern und den Takt der S 60 auf 15 Minuten zu verkürzen, wie Reznicek vorschlug, habe man geprüft, ließ die VVS weiter wissen. Dies sei jedoch wegen der vorhandenen Gleise am Bahnhof Böblingen und wegen der notwendigen Einhaltung des Fahrplans nicht möglich. „Für Wartezeiten gibt es nur einen geringen Spielraum“, hieß es bei der VVS.

Auch Jürgen Wurmtaler, der Wirtschaftsdirektor des Verbands Region Stuttgart, kennt Rezniceks Aufzeichnungen. „Es ist ein enger Fahrplan. Daran wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern, weil die Strecke so stark genutzt wird“, sagt er. Die Pendler hätten bald aber noch viel mehr zu ertragen – dann nämlich, wenn die Strecke zwischen Böblingen und Herrenberg in den Pfingstferien komplett gesperrt wird.